Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
machen, und so bin ich in
Dereköy gelandet. Ich wusste nicht einmal, dass ich hier Verwandte habe bis
Onkel Yusuf aus dem Nichts auftauchte.«
Kadir
dachte darüber nach. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Nevins Vater ein
einflussreicher Geschäftsmann war, der seine Finger auch in der Politik hatte
und überall mitmischte. Wie konnte es sein, dass ein solcher Mann keine Arztstelle
für seine Tochter fand? Und wenn diese Stelle schon nicht vorhanden war, warum
schuf er sie dann nicht einfach im Handumdrehen, indem er der Klinikleitung ein
paar Scheinchen hinblätterte? Er öffnete schon den Mund um nachzufragen,
schloss ihn dann aber wieder. Die Frage wäre taktlos gewesen. Wenn Nevin etwas
darüber erzählen wollte, würde sie es eines Tages tun. Kadir wandte sich einem
unverfänglichen Thema zu:
»Meine
Mutter hat es mir zwei- oder dreimal erklärt, aber ich verstehe immer noch
nicht, wie wir verwandt sind.«
»Die
verstorbene Frau von Onkel Yusuf ist die ehemalige Schwägerin einer Kusine
meines Großonkels. Es wäre also nicht gerade Blutschande, wenn wir ein Paar
würden. Das Alter stimmt, und wir beide hätten in Istanbul bestimmt eine glänzende
berufliche und private Zukunft vor uns. Was meinen Sie?«
Kadir verschluckte sich und
hustete keuchend. Nevin stand ruhig auf und schlug ihm mit der flachen Hand
sanft aber bestimmt auf den Rücken, doch der Anfall hörte nicht auf und
schüttelte Kadir so heftig durch, dass die Gäste an den Nachbartischen zu ihnen
hinübersahen und belustigt schmunzelten.
Kadir
lehnte sich auf seinem alten, knarzenden Liegestuhl zurück und zündete sich
eine Zigarette an. Auf den Dächern der Nachbarhäuser saßen noch vereinzelt ein
paar Familien, die Tee tranken und rauchten, hier und da flimmerte ein
Fernseher. Er kannte die Sternbilder nicht mit Namen, aber das störte ihn
nicht. In Köln war der Nachthimmel verschluckt vom Licht der Stadt, und obwohl
er dies wusste, hatte er sich als Kind oftmals weit aus dem Fenster gebeugt und
versucht, die tausenden strahlenden Sterne des türkischen Himmels in den
blassen vereinzelten Punkten über den Dächern der Großstadt wiederzuerkennen.
Wie
hatte Nevin eine solche Ungeheuerlichkeit so ruhig und mit klarer Stimme äußern
können? Der Abend war trotz oder gerade wegen seiner Ängste, ob er ihr wohl
gefallen würde, so romantisch gewesen, ein Vor und Zurück, ein Umschleichen und
Annähern in wohldosierten vorsichtigen Schritten, und plötzlich hatte sie mit
einem Vorschlaghammer auf den Amboss gehauen, so direkt und brutal, wie es
nicht einmal Latife fertig brächte. Und es war kein Ausrutscher von ihr, keine
unbedachte Bemerkung, sie hatte schlicht und ohne jede Gefühlswallung mit geradezu
militärischer Präzision festgestellt, dass die äußeren Bedingungen für eine
Beziehung stimmten. Punkt, Ende der Diskussion. Erster Schritt: Paarfindung,
zweiter Schritt: Paarwerdung.
Kadirs
Blick hangelte sich an der Milchstraße entlang, er versuchte, das enttäuschte
Brennen in seiner Kehle zu ignorieren und sog den Rauch tief in seine Lunge. Er
würde, dachte er sarkastisch, wie seine Mutter schon triumphierend verkündet
hatte, schließlich eine Ärztin zur Frau bekommen, die konnte seinen Lungenkrebs
dann versorgen. Ob eine solche unappetitliche Möglichkeit wohl auch in ihren
Plänen berücksichtigt war?
Kadir
warf die Zigarette in einen leeren Blumentopf und zündete sich eine neue an.
Wieso war er so wütend auf Nevin, auf ihre Bemerkung? Sevda würde ihm vorwerfen,
dass er so betroffen war, weil Nevin die Grenzen weiblicher Zurückhaltung mit
einem kühnen Schlag durchbrochen hatte. Oft genug hatte sie ihm einen leichten
Nasenstüber verabreicht und ihrer Mutter quer durch die Wohnung zugerufen, dass
sie aufhören solle, ihren einzigen Sohn zu einem Pascha zu erziehen! Aber auch
wenn sie oft richtig gelegen hatte, dass er voller rückständiger Vorurteile bestimmte
Verhaltensweisen als unweiblich definierte: Dies Mal war diese Vermutung
falsch. Von seinen Schwestern, seinen Freundinnen in Deutschland, den
Kolleginnen im Hotel und – auf andere Weise - auch von seiner Mutter war er es
gewohnt, dass Frauen entschieden und klar zum Ausdruck brachten, wenn ihnen etwas
nicht passte oder wenn sie etwas haben wollten. Zurückhaltung kannte er in
diesem Bereich bei Frauen nicht, im Gegenteil: Bei den Bülbüls war immer er es
gewesen, der sich mühsam gegen das vielstimmige Konzert der Vorstellungen und
Wünsche der weiblichen
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