Halva, meine Sueße
»Ob wir uns genauso gut verstehen wie früher?«
»Aber was denkst du denn? Lass uns einfach so beginnen,
wie wir in Teheran aufgehört haben: als Freundinnen.«
Miryam lächelte und dieses Lächeln ließ ihr glanzloses
Haar, ihre zu blasse Haut und die dunklen Schatten unter
den beinahe schwarzen Augen vergessen. Sie nippte vorsichtig
am Champagner und sagte dann: »Ich habe im Flugzeug
auch geweint, Halva. Aber ich habe geweint, weil ich erst da
begriffen habe, dass ich
wirklich
zu euch komme. Noch auf
dem Flughafen hat mich eine Polizistin angehalten und mir
gesagt, dass mein Mantel unten zu weit offen steht. Dabei
hatte ich alle Knöpfe geschlossen!«
»Und? Was hast du gemacht?«
»Was sie mir gesagt hat, natürlich. Sie gab mir Nadel und
Faden und ich musste vor ihren Augen den Mantel bis zum
Saum zunähen. Nachher konnte ich nur durch die Passkontrolle
trippeln. Als das Flugzeug hoch in der Luft war, habe
ich die Naht aufgerissen. Es war ein unglaubliches Gefühl.«
Halva schluckte. Sie hatte so vieles vergessen. Die leeren
Regale in den Geschäften, die im eiskalten Winter keine Heizung
und in der Backofenhitze des Sommers keine Klimaanlage
hatten. Die Gefängnisse, die voll mit jungen Leuten wie
ihr und Mudi waren: aus guter Familie und voll unbestimmter,
nie erfüllbarer Hoffnung auf ein besseres Leben. Seit den
Demonstrationen gegen die letzte Präsidentenwahl wurden
Mamiis Nachrichten immer schlechter: Zwei von Halvas Vettern, Shirin und Nasser, erhielten acht und neun Jahre
Haft für ihre Teilnahme an einer friedlichen Demonstration.
Was hatte Mamii an Raya geschrieben?
Es gibt wohl die Freiheit
zu reden, aber keine Freiheit nach der Rede.
Halva stellte ihre
halbvolle Schale ab und umarmte Miryam. Ihre Tante fühlte
sich schmal und zerbrechlich an und wurde einen Atemzug
lang ganz starr, doch dann spürte Halva sie in ihren Armen
weich werden. Miryam schmiegte sich unbeholfen an sie.
Für Fragen war später noch Zeit. »Ich helfe dir bei allem«,
versicherte Halva. »Frag nur – obwohl ich auch nicht auf alles
eine Antwort weiß! Gemeinsam kriegen wir das hin.«
Nun fingen beide an zu weinen und umarmten einander
wieder, aber dieses Mal echter, freier und herzlicher.
»Deine Schminke ist verschmiert, Halva«, sagte Miryam
und wischte sich selbst die Augen.
»Was ist denn hier los? Weshalb gibt es Tränen? Ich glaube,
ich muss den Damen den Champagner wegnehmen«,
sagte Mudi und zwinkerte den beiden zu.
»Füll lieber noch mal nach«, lachte Halva. »Wenn wir
schon feiern, dann richtig. Miryam ist frei!«
Halva wollte Mudi ihr Glas reichen, damit er es nachfüllte.
Wann gab es schließlich schon mal so teuren Champagner
zu trinken? »Oh nein«, rief sie stattdessen, denn Pamir
war auf den Tisch gesprungen und schleckte mit seiner rosa
Zunge den letzten Champagner aus ihrer Schale, ehe er sich
vor Ekel schüttelte und mit einem beleidigten Maunzen wieder
abzog.
»Was für ein Festmahl. Und die Nachbarn habt ihr hoffentlich
auch eingeladen, damit sie alles aufessen?« Mudi tat
so, als sähe er erst jetzt den Tisch, der sich rasch mit Platten
und Schüsseln füllte. Miryam blickte hungrig auf all die
Köstlichkeiten, die Raya und Halva auftrugen. Kaum eine
Küche war arbeitsintensiver als die des Iran, aber auch kaum
eine war köstlicher.
»Das Beste zuerst. Für dich, Mudi«, sagte Halva und reichte
ihm eine Scheibe
Tah-deeg.
Er schloss die Augen, neigte
den Kopf und biss genussvoll in die harte goldene, in Butter
gebackene Kruste aus Reis, die beim Kochen am Boden
des Topfes zurückblieb. Daher hatte die Köstlichkeit auch
ihren Namen:
Tah-deeg
hieß wörtlich übersetzt »Der Boden
des Topfes«.
»Was denn, verbrannter Reis?«, hatten Halvas Freundinnen
gefragt, als sie ihnen das erste Mal vom
Tah-deeg
erzählte.
»Nein, Quatsch, das ist was ganz anderes!« Aber Halva konnte ihnen doch nicht erklären, weshalb das
Tah-deeg
einfach
so himmlisch schmeckte. Bis sie es schließlich selber
probiert hatten.
»Gibt es all dies auch bei euch im Café zu kaufen? Ihr
müsst erfolgreich sein.
Pooldar«,
sagte Miryam mit leuchtenden
Augen, als alle Teller, Platten und Schalen auf dem
Tisch standen und nichts anderes mehr dort Platz gefunden
hätte. »Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel Essen
gesehen habe.«
»Das und noch viel mehr gibt es im
Hafez«,
sagte Halva
stolz. »Bei uns kauft die ganze Stadt.«
In tiefen Tellern lagen Bündel an frischem Gemüse: Gurken,
Radieschen, süße
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