Happy End in Seattle (German Edition)
Fliege.
Und sie war nicht die Einzige, die Enttäuschung zeigte. Auch Marv schien enttäuscht zu sein. So enttäuscht, dass Hallie sich fragte, was Rita ihm über sie erzählt hatte.
„Sie müssen Hallie sein“, sagte er, während er ihre Wohnung betrat. Dabei blickte er sich um wie ein Gutachter, der den Wert ihrer Einrichtung und ihrer persönlichen Dinge zu schätzen hatte. Er war klein, aber dafür konnte er schließlich nichts. Immerhin hätte Rita sie warnen können, ihr sagen, dass sie ohne Absätze gut fünf Zentimeter größer war als er. Was Hallie mehr störte, war seine brüske, unfreundliche Art. Nicht einmal ein Lächeln brachte er bei der Begrüßung zu Stande. Stattdessen musterte er sie mit demselben nüchternen Blick, mit dem er ihre Einrichtung taxiert hatte. Er zeigte keine Gefühlsregung, keinen Funken Wärme.
„Möchten Sie ein Glas Wein, bevor wir gehen?“ fragte Hallie und sagte sich dabei, dass der erste Eindruck täuschen konnte. Jedenfalls war sie entschlossen, diesen Abend mit Marv zu verbringen, und sei es nur deshalb, um das neue Kleid auszuführen, das sie sich zu diesem Zweck angeschafft und das sie über hundert Dollar gekostet hatte. Außerdem hatte Marv sie in ihr Lieblingsrestaurant eingeladen, das sie allein nur selten besuchte, weil es ihr zu teuer war. Ein Mann, der sie ins Cliffhanger einladen konnte, war es vermutlich wert, dass man mit ihm ausging.
Marv wollte keinen Wein. „Ich muss fahren“, erklärte er steif.
„Dann vielleicht eine Tasse Kaffee?“
„Koffeinfreien bitte.“
Er setzte sich auf einen Stuhl, während sie in die Küche ging. Als sie wenig später mit einem Becher Kaffee für ihn und einem Glas Wein für sich selber zurückkam, kniff er missbilligend die Lippen zusammen. Wenn dieser Abend so weiterging, dann würde sie den Wein brauchen. Am besten nahm sie gleich die ganze Flasche mit. Ein Schluck hier und da konnte sie vielleicht aufheitern.
„Rita sagte mir, Sie seien ein Kollege ihres Mannes“, unternahm sie einen Versuch, die Stimmung aufzulockern und den Abend zu retten.
Er nickte. „Sie sind eine Freundin von Rita, ist das korrekt?“
„Ja, das ist korrekt.“
„Wie lange kennen Sie Rita schon?“ fragte er, ein Notizbuch und einen Stift aus der Jackentasche ziehend.
„Rita?“ Hallie runzelte die Stirn. War diese Information so wichtig, dass er sie schriftlich festhalten musste? „Oh, schätzungsweise seit zehn Jahren, seit unserer Studienzeit.“
„Ich verstehe.“ Er trug die Information in sein Buch ein. „Und Sie sind wie alt?“
„Neunundzwanzig.“ Hallie stärkte sich mit einem Schluck Wein.
„Noch nie verheiratet?“
„Nein. Und Sie?“ Hallie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht die Geduld zu verlieren. Einer Inquisition hatte sie nicht zugestimmt. Und dieses Interview hatte große Ähnlichkeit mit einer solchen.
Marv ignorierte ihre Frage. „Sie sind Inhaberin einer Grafik-Agentur?“
„Richtig.“ Hallie kam es vor, als würde sie einen Bewerbungsbogen für einen Bankkredit ausfüllen. „Haben Sie einen Grund, mir all diese Fragen zu stellen?“
„Ich lege Wert darauf, Hintergrundinformationen über die Frauen zu besitzen, mit denen ich ausgehe.“
„Ach so.“ Sie wünschte sich fast, er würde sie fragen, wie viel sie wog. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben hätte es ihr Freude gemacht, Auskunft über ihr Gewicht zu geben.
Er klappte das Buch zu und griff nach seinem Kaffeebecher. „Sie erreichen eine allgemeine Bewertung von siebeneinhalb.“
„Sie bewerten mich?“ Hallie war so wütend, dass sie ihm fast an die Gurgel gegangen wäre, und dabei hatten sie noch nicht einmal das Haus verlassen.
„Ich bewerte jede Frau, mit der ich ausgehe.“ Er verzog die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns, was seine Züge weicher erscheinen ließ.
„Machen Sie das noch einmal“, forderte Hallie ihn auf, mit dem Finger auf seinen Mund deutend.
Er runzelte die Stirn, und der weiche Ausdruck schwand.
„Sie sollen lächeln“, befahl Hallie.
Er tat ihr den Gefallen, senkte jedoch gleich darauf den Blick. Aha, dachte Hallie, er ist schüchtern. Er versteckte sich hinter seinen Fragen und seinem Bewertungssystem und seinem seltsamen Verhalten. Die Erkenntnis erleichterte es ihr, ihm ein wenig Verständnis entgegenzubringen.
Er half ihr in den Mantel und öffnete die Wagentür für sie. Hm, dachte Hallie, wenn er will, kann er sich offenbar doch benehmen. Demnach schien noch Hoffnung für
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