Harlekins Mond
schweren Korb ab und wischte sich lose Haarsträhnen aus den Augen. Ihre Hände rochen nach den Tomatenpflanzen. »Oder vielleicht mit der in den kommunistischen Ländern – denen mit diversifizierten Volkswirtschaften und zentralisierter Macht, die alle gescheitert sind. Hier bei uns hat der Rat sämtliche Macht inne, wie in einem kommunistischen Land. Wir sind von den Räten abhängig. Sie könnten uns unsere Ressourcen wegnehmen, und sie kontrollieren unsere Freiheiten. Es ist wie eine Art feudaler Kommunismus.«
»Wie sieht es mit der Machtgrundlage der John Glenn aus?«, fragte Untertan. »In mancherlei Hinsicht existiert sie unabhängig von Selene. Welche Ressource kontrolliert der Rat?«
»Informationen?« Rachel nahm sich einen leeren Korb und machte sich erneut ans Tomatenpflücken. »Wie in den Demokratien auf der Erde, bevor es einen starken Weltgerichtshof gab. Es ist ein hohes Maß an Bildung vorhanden. Und trotzdem konzentriert sich die Macht im Hohen Rat, dessen Mitglieder häufig unterschiedlicher Meinung sind.« Sie hielt einen Moment lang inne und versuchte, sich Einzelheiten aus ihren Geschichtsstunden ins Gedächtnis zu rufen. »Trotzdem gibt es keine Abstimmungen unter den übrigen Mitgliedern des Rates, und die Erdgeborenen scheinen nicht einmal ein Mitspracherecht zu besitzen.«
»Sehr gut.« Untertan schwieg kurz. »Hat es etwas zu bedeuten, dass Leute wie Treesa, Ali und John, die mit dem Hohen Rat nicht einer Meinung sind, ihren permanenten Aufenthaltsort hierher auf Selene verlegt und sich dazu entschieden haben, zusammenzuleben?«
»Es bedeutet, dass ich Verbündete habe, mit denen ich reden kann.«
»Aber sie könnten sich dadurch um die Unmittelbarkeit des Einblicks in aktuelle Geschehnisse wie auch um die Möglichkeit einer Einflussnahme bringen.«
»Sie arbeiten an Projekten des Rates, aber ich nehme an, sie haben hier unten ein bisschen mehr Freiheit.« Rachel dachte an Gabriel. »Allerdings nicht wirklich. Der Hohe Rat kann sie von einem Augenblick auf den anderen zu sich hochholen.«
In Rachels Ohr erklang ein hoher Ton. Eine Warnung.
Die Tür des Gewächshauses öffnete sich, und im Türrahmen stand Shane vor einem Hintergrund aus schwindendem Tageslicht. Im Halbschatten wirkte sein Gesicht noch ernster als sonst. »Hallo Rachel«, sagte er, »ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finde.«
Was wollte Shane von ihr? Hatten die Räte Untertan entdeckt? Rachel antwortete freundlich, doch ihr zitterten die Hände. »Shane. Wie kann ich dir helfen?«
Er trat ein und schloss die Tür. »Ich will offen sein. Bevor Gabriel abgeflogen ist, hat er mir gesagt, er hätte dich gebeten, Nachforschungen im Hinblick auf die Verzögerungen bei den Bauteilen anzustellen. Er sagte, du würdest mir Bescheid geben, ob du irgendetwas gefunden hättest.«
Rachel widmete sich mit großer Aufmerksamkeit ihren Tomaten. »Mir ist nichts aufgefallen. Ich bin mir nicht sicher, wonach ich suchen soll.«
»Wir haben diverse Daten ausgewertet, und wir sind ziemlich sicher, dass die Fertigungsmannschaften, in denen deine Halbbrüder arbeiten, diejenigen sind, die die Probleme verursachen.«
»Probleme?«
»Sie leisten schlampige Arbeit. Gestern waren zwei der neuen Hochdruck-Kameragehäuse für die Zuflucht so schlecht verpackt, dass sie kaputtgegangen sind, bevor sie auch nur auf den Ratshöhen angekommen waren.« Seine Stimme klang vor Ärger ein wenig erstickt.
Rachel beäugte Shanes Gürtel. Die Räte trugen jetzt Uniformen – weiße Oberteile, blaue Hosen und Gürtel mit Handfeuerwaffen daran. Die Waffen waren klein, nicht größer als ein Handteller, und hatten die Form einer Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger.
Untertan hatte ihr deren Funktionsweise beschrieben. Die Waffen feuerten wahlweise eine einzelne Kristallnadel ab oder vier im Verbund. Jede Nadel war ein Kondensator. Beim Auftreffen zerbrach sie und setzte eine elektrische Ladung frei. Die Nadeln lösten sich in Wasser oder Blut auf. Eine einzelne Nadel genügte für gewöhnlich, um ein Opfer bewusstlos zu Boden zu schicken. Die andere Einstellung – ein Verbund von vier Nadeln – besaß größere Wirkung, doch der Schock würde den Getroffenen vermutlich töten. Untertan hatte erklärt, dass die Waffen im normalen Gebrauch nie auf Töten eingestellt waren, doch bei allen bestand die Möglichkeit dazu.
Was konnte sie Shane erzählen? »Vielleicht liegt es ja nicht an uns. Es gehören auch Erdgeborene zu diesen Gruppen.
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