Harlekins Mond
erhalten. Das Mädchen würde sich vermutlich ohnehin nicht zu einem größeren Problem auswachsen.
»Und jetzt«, verkündete Liren, »zu Andrew Hain.« Sie richtete ihren Blick auf Gabriel. »Er stellt eindeutig eine Gefahr dar. Was spricht dagegen, ihn einfach hier heraufzubringen und einzufrieren? So lautete Vorjahren die Entscheidung in Bezug auf Trill Hain.«
Gabriel runzelte die Stirn, legte die Fingerspitzen aneinander und erkaufte sich damit ein paar Augenblicke, um seine Gedanken zu ordnen. »Wir haben diese Möglichkeit erörtert. Für Andrew selbst hätte das keine Strafe bedeutet. Dagegen wird das, was wir mit ihm gemacht haben, auch den anderen eine Lehre sein. Die übrigen Mondgeborenen werden sehen, wie er unter ihnen lebt, wie er niedere Arbeiten verrichten muss, um seinen Unterhalt zu bestreiten, abgeschnitten von jeglichem Zugang zu irgendwelchen Informationen. Er bekommt nicht einmal die statistischen Tagesdaten. Wenn die anderen das sehen, werden sie erkennen, dass wir durchaus in der Lage sind, harte Entscheidungen zu treffen. Andrew wird ein Exempel sein. Wir sind zu dem Schluss gekommen, das sei weniger riskant, als ihn auf rätselhafte Weise verschwinden zu lassen.«
Kyu schaltete sich ein: »Wir können nicht all unsere Probleme auf Eis legen. Manche davon müssen wir lösen!«
Liren wog ihre Alternativen ab. Gabriels Antwort zu akzeptieren bedeutete, dass man seine Entscheidung als richtig ansehen würde. Konnte sie dafür sorgen, dass das ihren eigenen Plänen zugutekam? Schließlich sagte sie: »In Ordnung. Die John Glenn ist als Gefängnis ohnehin eine schlechte Wahl, und Kriminelle zu vereisen hieße, ihnen als Belohnung für ihren Vandalismus auch noch unsere verlängerte Lebensspanne zu verleihen.«
Der Captain stellte ruhig fest: »Dafür gibt es Präzedenzfälle.«
»Nein«, hielt Kyu dagegen. »Die Missgestimmten sind keine Strafgefangenen – wir haben sie wieder vereist, weil sie beim Aufwachen nicht bei klarem Verstand waren. Und wenn wir erst einmal Ymir erreicht haben, werden wir eine Möglichkeit finden, sie zu heilen.«
Liren fuhr fort. »Die Situation mit Andrew ist problematisch; wir hätten etwas Derartiges kommen sehen sollen. Es werden unter den Mondkindern Fälle von gefährlichem Verhalten auftreten. Mit ein paar davon könnten wir fertig werden, aber wir können nicht jeden von ihnen hierher bringen und einfrieren. Abgesehen davon wäre das die falsche Verwendung für unsere begrenzten kryogenen Ressourcen. Wir müssen eine Strafvollzugseinrichtung in unseren Plan aufnehmen. Wenn es einmal so weit ist, dass die Bevölkerungszahl der Mondgeborenen 5000 oder mehr beträgt, werden wir einen Ort benötigen, an dem wir die Aufrührerischen unter ihnen in Gewahrsam nehmen können. Ich will, dass mir das Team der Terraformer innerhalb der nächsten sechs Monate Pläne für eine Haftanstalt vorlegt. Außerdem möchte ich den Aufbau einer Polizeistreitmacht zur Diskussion stellen.«
Es wurde vollkommen still im Raum. Kyu malte ohne aufzublicken auf dem Sensorfeld ihres Armbandgerätes herum. Captain Hunter wartete ab und beobachtete die übrigen Hohen Räte. Gabriel sah aus, als hätte er sich auf die Zunge gebissen. Hatte sie sich zu weit vorgewagt?
Kyu rief: »Wir dürfen zu den Mondgeborenen keine adversative Beziehung aufbauen!«
»Und was für eine Beziehung wollen wir dann?«, parierte Liren. »Wir müssen über dieses Projekt die uneingeschränkte Kontrolle behalten.«
Kyu presste ihre Worte einzeln zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Wir sollten ihnen beibringen, so zu sein wie wir. Ihnen unsere Werte vermitteln – ihnen positive Gründe geben, uns zu respektieren. Ihnen vielleicht sogar ihre polizeilichen Aufgaben selbst überlassen.«
»Das ist gefährlich«, fuhr Liren sie an.
»Irgendeine Gesellschaftsstruktur werden sie brauchen; wir können sie schließlich nicht mit uns nehmen«, stellte Kyu fest. Sie stand auf und blickte in die Runde, während sie auf eine Antwort wartete. So klein sie auch war, und trotz der purpurnen Bänder und ihres farbenprächtigen Make-ups, verlieh die zusätzliche Größe Kyu Präsenz.
Captain Hunter sagte: »Setzen Sie sich, Kyu!« Er wartete, bis sie ihren Platz am Tisch wieder eingenommen hatte, bevor er fortfuhr. »An unserem Kernproblem hat sich nichts geändert. Wenn wir hier nicht wegkommen, werden wir sterben. Wir sind übereingekommen, dass wir für manche Menschen – für unsere eigenen Kinder –
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