Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
klar.
Interessant,
dachte ich, ließ mich aber nicht ablenken. »Machen sich deshalb alle so viele
Sorgen um Victor, weil sie Angst haben, dass er etwas mit dem Verschwinden
seiner Schwester zu tun hat?« Dieser Gedanke war mir nämlich auch schon
gekommen, als mir Victor gegenübergesessen und mir seine heimlichen Ängste
anvertraut hatte. Vielleicht hatte er das Ganze nur erfunden, um von sich
selbst abzulenken.
»Wir machen
uns Sorgen, weil ... Ich habe deswegen auch schon mit Joel geredet... Victor
ist so ein Heimlichtuer. Er verschwindet ständig und will dann nicht sagen, wo
er gewesen ist... Ständig steckt er mit diesem Barney zusammen, und Barneys
Eltern sind ... Na ja, sie sind Christen und gehen zu einer dieser Kirchen, wo
die Leute in Birkenstocksandalen zur Messe kommen. Er schließt sich oft in
seinem Zimmer ein. Wir haben uns schon gefragt, ob Victor und dieser Junge
vielleicht Drogen nehmen, aber sie schreiben beide gute Noten. Er ist im
Ringerteam, ein kräftiger Junge, trotzdem machen wir uns Sorgen...«
»Sie haben
das Gefühl, dass Victor irgendwie anders ist«, sagte ich.
David
nickte. »Wissen Sie, was mit ihm los ist?«, fragte er mich unverschämt direkt.
»Aus irgendeinem Grund muss er ja zu Ihnen gekommen sein. Wenn er keinen Sex
wollte...«
»Sie können
sich nicht vorstellen, dass er einen anderen Grund hatte, stimmt's?«, sagte ich
ernst.
David sah
sofort wieder beschämt drein.
»Ich habe
keinen Sex mit Teenagern«, sagte ich. »Weder mit einem allein, noch mit zweien
auf einmal. Das interessiert mich nicht.«
Da ich kühl
und gelassen blieb, fand Davids Wut keine neue Nahrung. Also tat er, was ihm
das Zweitliebste war, und verfiel in dümmliches Schweigen. »Aber warum war
Victor sonst hier?«, fragte er schließlich.
»Das müssen
Sie ihn schon selber fragen«, sagte ich. Dafür dass Victor sich monatelang mit
dem Verdacht herumgeplagt hatte, sein Vater könne etwas mit Tabithas
Verschwinden zu tun haben, war er seelisch eigentlich in erstaunlich guter
Verfassung. Er hatte so erleichtert gewirkt, seine Bürde losgeworden zu sein.
Er schien auch froh zu sein, seine sexuelle Orientierung beichten zu können.
Trotzdem brauchte Victor dringend einen Therapeuten. Ich konnte kaum glauben,
dass er noch keinen aufgesucht hatte. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.
»Oh, er war
mehrmals beim Therapeuten«, sagte David, wie um mir klarzumachen, dass sie das
Beste für den Jungen taten. »Aber Fred ist da etwas altmodisch. Er fand, Victor
solle sich nicht so anstellen. Wahrscheinlich hat er Joel und Diane
letztendlich von seinem Standpunkt überzeugt, denn als sie von Nashville hierherzogen, haben sie ihm keinen neuen
Therapeuten gesucht. Ehrlich gesagt, schien es Victor in Memphis auch deutlich
besser zu gehen.«
»Fred wollte
also nicht, dass er sich jemandem anvertraute«, stellte ich fest.
David wirkte
überrascht. »Zumindest nicht einem Therapeuten. Er hat eben sehr altmodische
Ansichten und findet, man soll seine Probleme für sich behalten. Nach dem
Motto: Die Zeit heilt alle Wunden.«
Von mir aus
konnte David jetzt gehen. Ehrlich gesagt, hatte ich mehr als genug von dieser
Familie. Ja, ich wünschte mir sogar, nie etwas von Tabitha Morgenstern gehört,
nie auf diesem abgelegenen Grab gestanden zu haben. Trotzdem wurde ich das
Gefühl nicht los, dass man mich zu diesem Grab gelotst, mich nach Memphis
geholt hatte, damit ich das Kind fand. Und ich hatte getan, was man von mir
verlangt hatte. Ich war die ganze Zeit manipuliert worden.
»Auf
Wiedersehen, David«, sagte Tolliver, und David wirkte fast ein wenig
überrascht, dass wir ihn loswerden wollten.
»Noch
einmal«, hob er an, als er aufstand.
»Ich weiß.
Es tut Ihnen leid«, sagte ich. Ich war dermaßen müde, dass ich Angst hatte, das
Fleisch könne mir einfach so von den Knochen fallen. Es war noch viel zu früh,
um ins Bett zu gehen, aber soweit ich mich erinnerte, hatte ich seit dem
Frühstück nichts mehr gegessen.
Nachdem
David endlich weg war, sagte Tolliver: »Wir bestellen uns sofort was zu essen.«
Er rief den Zimmerservice an, und obwohl es mitten am Nachmittag war, dauerte
es nicht lange, bis das Essen kam.
Wir aßen
schweigend, und ich dachte nach. Ich ging noch mal alles durch, was wir
wussten.
Tabitha
Mogenstern. Elf Jahre alt. Das heiß geliebte Kind vermögender, jüdischer
Eltern. In Nashville entführt, um dann in Memphis tot
auf einem alten christlichen Friedhof wieder aufzutauchen. Den
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