Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Satz.
Er schob das Dokument über den Tisch zurück. Es traf Wu an der Brust.
»Nein, nein«, antwortete Wu rasch. »Das ist alles richtig. Es ist von Sun Yee unterschrieben.«
»Vielleicht, wenn Sie ihm eine Pistole an den Kopf gedrückt haben. Machen Sie das in Hongkong immer so?«
»Detective Bosch!«, brauste Wu auf. »Sie werden kommen nach Hongkong und antworten auf diese Vorwürfe.«
»Ich komme nicht nach Hongkong, das können Sie vergessen.«
»Sie haben getötet viele Menschen. Sie haben benutzt Schusswaffen. Sie haben Vorrang gegeben Ihre Tochter über alle chinesische Bürger und …«
»Sie haben ihr Blut abgenommen, um ihre Blutgruppe zu bestimmen!«, stieß Bosch wütend hervor. »Wissen Sie, wann sie das tun? Wenn sie Spenderorgane zu verkaufen versuchen.«
Er machte eine Pause und beobachtete das wachsende Unbehagen in Wus Miene. Lo interessierte ihn nicht. Die Entscheidungsgewalt lag bei Wu, und wenn Bosch ihn umstimmen konnte, hätte er nichts mehr zu befürchten. Haller hatte recht behalten mit der Strategie, die er auf dem Rücksitz seines Lincoln für diese Begegnung entworfen hatte. Statt sich darauf zu verlegen, Boschs Vorgehen als Notwehr zu rechtfertigen, hatte er darauf bestanden, den Männern aus Hongkong in aller Deutlichkeit klarzumachen, was seitens der internationalen Medien auf sie zukäme, sollten sie ein Verfahren gegen Bosch anstrengen.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, diesen Punkt ins Spiel zu bringen, weshalb Haller die Gesprächsführung übernahm und seelenruhig zum entscheidenden Schlag ansetzte.
»Meine Herren, Sie können sich gern weiter auf Ihre unterzeichnete Aussage stützen«, erklärte er mit einem Lächeln, das durch nichts zu erschüttern schien. »Aber lassen Sie mich trotzdem kurz die Fakten zusammenfassen, die von den vorliegenden Indizien gestützt werden. In Ihrer Stadt wurde ein dreizehnjähriges amerikanisches Mädchen entführt. Ihre Mutter rief, wie es sich gehört, bei der Polizei an, um die Straftat zu melden. Die Polizei weigerte sich, Ermittlungen anzustellen, worauf …«
»Das Mädchen war schon einmal ausgerissen«, unterbrach ihn Lo. »Es bestand kein Anl…«
Haller schnitt ihm mit erhobenem Zeigefinger das Wort ab.
»Das tut in diesem Fall nichts zu Sache«, entgegnete er in einem Ton beherrschten Zorns. Das Lächeln war verflogen. »Die Hongkong Police Force wurde über das Verschwinden eines amerikanischen Mädchens in Kenntnis gesetzt, woraufhin sie,
aus welchem Grund auch immer,
entschied, diesen Hinweis zu ignorieren, so dass sich die Mutter des Mädchens gezwungen sah, auf eigene Faust nach ihrer Tochter zu suchen. Und das Erste, was sie tat, war, den Vater des Mädchens zu bitten, ihr aus Los Angeles zu Hilfe zu kommen.«
Haller deutete auf Bosch.
»Detective Bosch flog umgehend nach Hongkong und machte sich gemeinsam mit seiner Ex-Frau und Mr. Sun Yee, einem Freund der Familie, auf die Suche, an der sich die HKPF , wie sie der Mutter des Mädchens in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben hatte, nicht zu beteiligen beabsichtigte. Dabei stießen sie, auf eigene Faust wohlgemerkt, auf Hinweise, dass das Mädchen wegen seiner Organe entführt worden war. Dieses amerikanische Mädchen, es sollte wegen seiner Organe verkauft werden!«
Seine Wut nahm beständig zu, und Bosch hatte nicht den Eindruck, dass sie gespielt war. Haller ließ seinen Zorn über den Tisch ziehen wie eine Gewitterfront, bevor er fortfuhr.
»Nun wurden, wie Sie wissen, meine Herren, mehrere Personen getötet. Mein Mandant wird sich Ihnen gegenüber dazu nicht in allen Einzelheiten äußern. Es mag deshalb genügen, hierzu nur so viel zu sagen, dass es eine Mutter und ein Vater, die bei dem Versuch, ihre Tochter zu finden, vom Staat und von der Polizei Hongkongs keinerlei Unterstützung erhielten, mit einigen extrem skrupellosen Personen zu tun bekamen und dabei in Situationen gerieten, in denen sie vor die Entscheidung gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Es
war
Notwehr!«
Bosch sah die zwei Hongkonger Polizisten buchstäblich zurückweichen, als ihnen Haller den letzten Satz entgegenschleuderte. Danach fuhr der Anwalt sofort wieder in ruhigem und beherrschtem Gerichtssaaltonfall fort.
»Nun können wir natürlich gut verstehen, dass Sie wissen wollen, was genau passiert ist. Sie haben Berichte zu schreiben und Vorgesetzte zu informieren. Dennoch sollten Sie sich auch fragen, ob der Weg, den Sie hier einschlagen, der richtige
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