Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
müssen.«
»Vielleicht sehen Sie sie ja auch nie wieder«, sagte McPherson. »Bloß weil sie auf der Liste stehen, heißt das keineswegs, dass sie auch als Zeugen auftreten werden. Die Verteidigung zieht einfach möglichst viele Namen aus den Akten und packt sie auf die Liste, um uns zu verwirren, Sarah. Im Juristenjargon nennt man das
heuhäufeln.
Die wichtigen Zeugen verstecken sie, und unser Ermittler – Detective Bosch – vergeudet seine Zeit damit, den falschen Leuten hinterherzulaufen. Aber auf dieser Liste muss mindestens ein Name stehen, der wichtig ist. Wer ist das, Sarah? Helfen Sie uns.«
Sie starrte auf die Liste, ohne zu antworten.
»Jemand, der behaupten kann, Sie beide hätten sich mal nahegestanden. Jemand, mit dem Sie zusammen waren und dem Sie sehr persönliche Dinge erzählt haben.«
»Ich dachte immer, ein Ehemann dürfte nicht gegen seine Frau aussagen.«
»Ein Ehepartner kann nicht gezwungen werden, den anderen zu belasten. Aber worauf wollen Sie hinaus, Sarah?«
»Der hier.«
Sie deutete auf einen Namen auf der Liste. Bosch beugte sich vor, um ihn zu lesen. Edward Roman. Seine Spur hatte in eine geschlossene Entzugsanstalt in North Hollywood geführt, in der Sarah nach ihrer letzten Haftstrafe neun Monate verbracht hatte. Daraus hatte Bosch geschlossen, dass sie sich wahrscheinlich bei der Gruppentherapie kennengelernt hatten. Der letzte Wohnsitz Romans, den Royce auf der Zeugenliste angegeben hatte, war ein Motel in Van Nuys, in dem Roman aber schon lange nicht mehr aufgetaucht war. Bosch war der Sache nicht weiter nachgegangen und hatte den Mann als einen Teil von Royce’ Heuhaufen abgetan.
»Roman«, sagte er. »Sie waren mit ihm in der Entzugsanstalt, oder?«
»Ja.« Gleason nickte. »Und dann haben wir geheiratet.«
»Wann?«, fragte McPherson. »Für diese Eheschließung liegen uns keine Urkunden vor.«
»Das war kurz nach unserer Entlassung. Er kannte einen Geistlichen. Wir haben am Strand geheiratet. Aber es hat nicht lang gehalten.«
»Haben Sie sich scheiden lassen?«, fragte McPherson.
»Nein … es war mir eigentlich auch egal. Und als ich dann clean wurde, wollte ich mich nicht mehr damit befassen. Ich habe es einfach verdrängt. Als ob es gar nicht passiert wäre.«
McPherson sah Bosch an.
»Vielleicht war es ja gar keine offizielle Eheschließung«, sagte er. »In den Archiven des County existieren jedenfalls keine Unterlagen darüber.«
»Ob Sie nun offiziell verheiratet waren oder nicht, spielt ja auch keine Rolle«, sagte McPherson. »Er stellt sich offensichtlich freiwillig als Zeuge zur Verfügung und kann deshalb gegen Sie aussagen. Das Einzige, was zählt, ist, was er aussagen wird. Was wird er behaupten, Sarah?«
Gleason schüttelte langsam den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Was haben Sie ihm über Ihre Schwester und Ihren Stiefvater erzählt?«
»Keine Ahnung. Diese Zeit … ich kann mich kaum mehr an etwas aus dieser Zeit erinnern.«
Darauf trat längeres Schweigen ein, und schließlich bat McPherson Sarah Gleason, sich die restlichen Namen auf der Liste anzusehen. Das tat sie und schüttelte den Kopf.
»Bei einigen dieser Namen weiß ich nicht einmal, wer das sein soll. Manche der Leute von damals kannte ich nur mit ihrem Spitznamen.«
»Aber Edward Roman kennen Sie?«
»Ja. Wir waren zusammen.«
»Wie lang?«
Gleason schüttelte verlegen den Kopf.
»Nicht lang. Während des Entzugs dachten wir, wir wären füreinander geschaffen. Aber sobald wir draußen waren, hat es nicht mehr geklappt. Es hielt vielleicht drei Monate. Ich kam wieder ins Gefängnis, und als ich wieder rauskam, war er weg.«
»Ist es möglich, dass Sie gar nicht offiziell verheiratet waren?«
Gleason dachte kurz nach und zuckte halbherzig mit den Achseln.
»Möglich ist alles, schätze ich mal.«
»Also gut, Sarah, ich gehe jetzt mit Detective Bosch kurz raus. Sie möchte ich bitten, in der Zwischenzeit noch mal über Edward Roman nachzudenken. Alles, woran Sie sich erinnern können, ist hilfreich, egal was. Ich bin gleich wieder zurück.«
McPherson nahm Sarah Gleason die Zeugenliste aus der Hand und gab sie Bosch zurück. Sie verließen das Zimmer, gingen aber nur ein paar Schritte den Flur hinunter, bevor sie stehenblieben und sich im Flüsterton miteinander unterhielten.
»Ich glaube, du solltest unbedingt versuchen, ihn zu finden«, sagte McPherson.
»Aber selbst wenn, bringt es uns nicht weiter«, sagte Bosch. »Wenn er Royce’ Starzeuge ist, wird er nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher