Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
genutzt, um unbemerkt zu entkommen?
Im Augenblick gab es keine Möglichkeit, das festzustellen.
Endlich bekam er das Schloss auf. Er hatte länger gebraucht als beim ersten Mal. Er betrat das Abteil und richtete die Lampe auf die Decke und das Kissen auf dem Boden. Die Tüte, die Jessup bei sich gehabt hatte, lag ebenfalls da. Es stand
Ralphs
darauf. Bosch kniete nieder und wollte sie gerade öffnen, als sein Handy läutete. Es war Jacquez.
»Wir haben ihn. Er ist im Neilson Way am Ocean Park Boulevard. Sieht so aus, als ginge er nach Hause.«
»Dann passen Sie auf, dass Sie ihn nicht noch mal verlieren, Jacquez. Ich muss jetzt Schluss machen.«
Er drückte die Trenntaste, bevor Jacquez antworten konnte, und rief rasch seine Tochter an. Sie war bereits bei Sue Bambrough im Auto. Bosch sagte ihr, sie könnten umdrehen und wieder nach Hause fahren. Die Entwarnung wurde jedoch nicht mit dankbarer Erleichterung aufgenommen. Seine Tochter war wegen des Schrecks weiterhin wütend und aufgewühlt. Bosch konnte es ihr nicht verdenken. Aber jetzt war nicht der Moment, um länger mit ihr zu telefonieren.
»Ich komme spätestens in einer Stunde nach Hause. Dann können wir in Ruhe über alles reden, wenn du noch wach bist. Bis gleich.«
Er beendete das Gespräch und konzentrierte sich auf die Tüte. Er öffnete sie, ohne sie von ihrem Platz neben der Decke zu entfernen.
Sie enthielt ein Dutzend Dosen mit Früchten. Pfirsichhälften im Saft, Ananasstückchen und etwas, was sich Fruit Medley nannte. Außerdem war eine Packung Plastiklöffel in der Tüte. Bosch studierte den Inhalt eine Weile, dann wanderte sein Blick die Wand hinauf und an den Deckenbalken entlang zu der abgeschlossenen Falltür.
»Wen willst du hierherbringen, Jessup?«, murmelte er.
33
Mittwoch, 7. April, 13:05 Uhr
A ller Augen waren auf die Tür am Ende des Gerichtssaals gerichtet. Jetzt kam der Topact des Prozesses, und obwohl ich einen Platz in der ersten Reihe hatte, war ich wie alle anderen nur Zuschauer. Darüber war ich zwar nicht begeistert, aber ich konnte damit leben. Die Tür ging auf, und Harry Bosch führte unsere Hauptzeugin in den Saal. Sarah Ann Gleason hatte uns erklärt, sie habe kein Kleid und wolle sich für ihren Auftritt vor Gericht auch keines kaufen. Sie trug eine schwarze Jeans und eine violette Seidenbluse. Sie sah gut aus und trat selbstbewusst auf. Da brauchten wir kein Kleid.
Bosch blieb auf ihrer rechten Seite, und als er ihr die Tür in der Schranke aufhielt, postierte er sich zwischen ihr und Jessup, der auf der Anklagebank saß und sich wie alle anderen zu seiner Hauptbeschuldigerin umgedreht hatte.
Die letzten Meter zum Zeugenstand ließ Bosch sie allein gehen. Maggie McFierce stand bereits am Pult und lächelte ihrer Zeugin freundlich zu, als sie an ihr vorbeiging. Es war auch Maggies großer Auftritt, und ich deutete ihr Lächeln als ein Zeichen der Hoffnung für beide Frauen.
Wir konnten auf einen guten Vormittag zurückblicken. Zunächst hatte Bill Clinton, der ehemalige Abschleppfahrer, ausgesagt, und anschließend hatte bis zur Mittagspause Bosch seinen Platz im Zeugenstand eingenommen. Clinton schilderte die Ereignisse am Tag des Mordes aus seiner Sicht und erzählte, wie sich Jessup seine Dodgers-Kappe geborgt hatte, bevor sie sich vor dem Haus im Windsor Boulevard zu der improvisierten Gegenüberstellung aufgestellt hatten. Außerdem bestätigte er, dass die Aardvark-Fahrer den Parkplatz hinter dem El Rey Theatre regelmäßig benutzt hatten und dass Jessup am Morgen des Mordes den Windsor Boulevard für sich beansprucht hatte. Das waren gute, solide Punkte für die Anklage, und auch beim Kreuzverhör schenkte Clinton Royce nichts.
Danach nahm Bosch zum dritten Mal im Zeugenstand Platz. Statt frühere Zeugenaussagen zu verlesen, sagte er diesmal über seine eigenen Ermittlungen zu dem Fall aus und zeigte die Dodgers-Mütze mit den Initialen BC unter dem Schirm, die Jessup vor vierundzwanzig Jahren bei seiner Festnahme abgenommen worden war. Dabei waren wir gezwungen, darum herumzureden, dass die Mütze in den vergangenen vierundzwanzig Jahren zusammen mit Jessups anderen Habseligkeiten in der Asservatenkammer von San Quentin verwahrt worden war. Hätten wir diesen Punkt angeschnitten, wäre ersichtlich geworden, dass Jessup bereits wegen der Ermordung Melissa Landys verurteilt worden war.
Und nun sollte Sarah Gleason als letzte Zeugin der Anklage vernommen werden. Mit ihrer Hilfe würde sich die
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