Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Falldarstellung der Anklage zu dem emotionalen Crescendo steigern, auf das ich baute. Eine Schwester, die für eine lange verlorene Schwester eintrat. Ich lehnte mich zurück, um zuzusehen, wie meine Ex-Frau – die beste Staatsanwältin, die ich kannte – den Sack zumachte.
Gleason wurde vereidigt und nahm im Zeugenstand Platz. Sie war klein, und der Deputy musste das Mikrophon für sie verstellen. Maggie räusperte sich und begann.
»Guten Morgen, Ms. Gleason. Wie ist Ihnen heute zumute?«
»Es geht so.«
»Könnten Sie den Geschworenen bitte ein wenig über sich selbst erzählen?«
»Ähm, ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Ledig. Und lebe seit etwas sieben Jahren in Port Townsend, Washington.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Glasbläserin.«
»Und in welcher Beziehung standen Sie zu Melissa Landy?«
»Sie war meine kleine Schwester.«
»Wie viel jünger als Sie war sie?«
»Dreizehn Monate.«
Als Beweisstück der Anklage zeigte Maggie auf den Flachbildschirmen ein Foto der zwei Schwestern. Darauf waren zwei lächelnde Mädchen vor einem Weihnachtsbaum zu sehen.
»Können Sie uns Näheres zu diesem Foto sagen?«
»Das sind Melissa und ich an unserem letzten gemeinsamen Weihnachten. Bevor sie entführt wurde.«
»Dann war das also Weihnachten 1985?«
»Ja.«
»Wenn ich das richtig sehe, sind Sie und Ihre Schwester auf diesem Foto etwa gleich groß.«
»Ja, sie war eigentlich meine gar nicht mehr so kleine Schwester. Sie hatte mich größenmäßig eingeholt.«
»Haben Sie sich Ihre Kleider geteilt?«
»Einige haben wir uns geteilt, aber jede von uns hatte auch bestimmte Lieblingssachen, die sie der anderen nicht leihen wollte. Das führte manchmal zu heftigen Streitereien.«
Sie lächelte, und Maggie nickte, als würde sie das aus eigener Erfahrung kennen.
»Sie sagten gerade, sie wurde entführt. Meinen Sie damit den 16. Februar des folgenden Jahres, den Tag, an dem Ihre Schwester entführt und ermordet wurde?«
»Ja, das ist der Tag, den ich meine.«
»Gut, Sarah, ich weiß zwar, dass Ihnen das schwerfallen wird, aber trotzdem hätte ich gern, dass Sie den Geschworenen schildern, was Sie an diesem Tag gesehen und getan haben.«
Gleason nickte, als wappnete sie sich für das Kommende. Ich blickte zur Geschworenenbank und sah, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. Dann drehte ich mich zur Seite und schaute zur Anklagebank und sah Jessup in die Augen. Ich wandte den Blick nicht ab. Ich hielt seinem herausfordernden Starren stand und versuchte, ihm ebenfalls etwas zu übermitteln: dass ihn zwei Frauen zur Strecke bringen würden – eine, die Fragen stellte, und eine, die sie beantwortete.
Schließlich war es Jessup, der wegschaute.
»Es war an einem Sonntag«, begann Gleason. »Wir wollten in die Kirche gehen. Die ganze Familie. Melissa und ich hatten bereits unsere Sonntagskleider an. Deshalb schickte uns meine Mutter in den Vorgarten.«
»Warum sollten Sie nicht in den großen Garten hinter dem Haus gehen?«
»Weil mein Stiefvater dort einen Swimmingpool bauen ließ, deshalb waren dort ein großes Loch und riesige Erdhaufen. Meine Mutter fürchtete, wir könnten hinfallen und uns die Kleider schmutzig machen.«
»Deshalb gingen Sie in den Vorgarten spielen.«
»Ja.«
»Und wo waren währenddessen Ihre Eltern, Sarah?«
»Meine Mutter war noch oben und hat sich für die Kirche fertig gemacht, und mein Stiefvater war im Fernsehzimmer, Sport schauen.«
»Wo war das Fernsehzimmer?«
»Hinten, neben der Küche.«
»Okay, Sarah, ich zeige Ihnen jetzt ein Foto mit der Bezeichnung ›Beweisstück elf der Anklage‹. Ist das die Vorderseite des Hauses im Windsor Boulevard, in dem Sie damals gewohnt haben?«
Alle Blicke wanderten zu den großen Bildschirmen, auf denen das Backsteinhaus erschien. Das Foto war von der Straße aufgenommen und zeigte einen großen Vorgarten mit drei Meter hohen Hecken an beiden Seiten. Die Veranda an der Vorderseite des Hauses war größtenteils von Blumen und Ziersträuchern verdeckt. Vom Gehsteig führte ein gepflasterter Weg über den Rasen. Ich hatte unsere Fotobeweisstücke im Zug der Prozessvorbereitungen immer wieder studiert. Aber erst jetzt fiel mir der Riss in der Mitte des Wegs auf, der sich über seine gesamte Länge erstreckte. Angesichts dessen, was in dem Haus geschehen war, schien das fast folgerichtig.
»Ja, das war unser Haus.«
»Erzählen Sie uns, was an diesem Tag im Vorgarten passiert ist, Sarah.«
»Na ja, wir
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