Harry Dresden 09: Weiße Nächte
suchte nach den richtigen Worten. „Weil ich es muss. Ich weiß, dass das, was du tust, unumgänglich ist. Es ist richtig, und ich weiß, dass du es tust, weil du der einzige bist, der es kann, und ich will helfen.“
„Glaubst du, du bist stark genug, um zu helfen?“, fragte ich.
Sie knabberte an ihrer Lippe und sah mir kurz in die Augen. „Ich denke … ich denke, es kommt nicht darauf an, wie stark meine Magie ist. Ich weiß, ich … ich weiß, ich kann nicht dieselben Dinge tun wie du. Die Waffen und die Kämpfe und …“ Sie hob ihr Kinn und schien wieder ein wenig Fassung zu gewinnen. „Aber ich kann mehr als die meisten anderen.“
„Du weißt einiges“, gab ich zu. „Aber eines musst du kapieren, Kleine. Das hat keine Bedeutung, sobald die Dinge hässlich werden. Da bleibt keine Zeit, zu überlegen oder es ein zweites Mal zu versuchen.“
Sie nickte. „Das Einzige, was ich versprechen kann, ist, dass ich dich nicht verlassen werde, wenn du mich brauchst. Ich werde alles tun, von dem du glaubst, dass ich es kann. Ich bleibe hier und hüte das Telefon. Ich fahre das Auto. Ich gehe hinten und trage die Taschenlampe. Was immer du willst.“ Sie sah mir fest in die Augen. „Aber ich kann nicht in Sicherheit daheim herumsitzen. Ich muss mitmachen. Ich muss helfen.“
Plötzlich erschallte ein schnalzendes Geräusch, als der Lederriemen ihres Armbandes wie aus eigenem Willen aufsprang. Schwarze Kugeln schossen mit solcher Wucht an die Decke, dass es für die nächsten zehn Sekunden Perlen auf uns herabregnete. Mister, der immer noch spielerisch auf seinen Beutel mit Katzenminze einprügelte, hielt inne, um das Schauspiel zu beobachten, und seine Ohren zuckten angesichts des plötzlichen Trubels. Ich ging zu Molly hinüber, die völlig verblüfft aus der Wäsche sah.
„Es war der Vampir, nicht?“, sagte ich. „Seinen Tod mit anzusehen.“
Sie blinzelte mich an. Dann die verstreuten Perlen. „Ich … ich habe es nicht nur gesehen. Ich habe es gefühlt. Ich kann es nicht erklären. In meinem Kopf. Ich habe es genauso gefühlt wie bei diesem armen Mädchen. Aber es war abscheulich.“
„Ja“, sagte ich. „Du bist eine Einfühlsame. Das ist eine außerordentliche Begabung, aber sie hat ihre Nachteile. In diesem Fall jedoch bin ich froh, dass du diese Gabe Besitzt.“
„Warum?“, flüsterte sie.
Ich wies auf die verstreuten Perlen. „Glückwunsch, Kleine“, sagte ich. „Du bist bereit.“
Sie blinzelte und legte den Kopf zur Seite. „Was?“
Ich hielt den leeren Lederriemen mit zwei Fingern in die Höhe. „Es ging nicht um Macht, Molly. Es ist nie um Macht gegangen. Die hast du in rauen Mengen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Aber … die ganze Zeit über …“
„Wären die Perlen nie in die Höhe gewandert. Wie gesagt, Macht hat nicht die geringste Rolle gespielt. Macht hast du nicht gebraucht. Du brauchtest Hirn.“ Ich tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Du musstest die Augen öffnen, dir bewusst werden müssen, wie gefährlich die Welt wirklich ist. Du hast deine eigenen Grenzen erkennen und herausfinden müssen, weshalb du dich auf eine Mission wie diese machen sollst.“
„Aber … ich habe doch nur gesagt, dass ich Angst habe.“
„Nach allem, was du ausgehalten hast? Das ist schlau, Kleine“, antwortete ich. „Ich habe auch Angst. Jedes Mal, wenn etwas wie das hier passiert, jagt es mir eine Heidenangst ein. Aber einfach nur stark zu sein bringt dich nicht weiter. Klug zu sein hingegen schon. Ich habe ein oder zwei Menschen und auch das eine oder andere Wesen besiegt, die um einiges stärker waren als ich, weil die ihren Kopf nicht benutzt haben, oder weil ich mein Hirnschmalz einfach besser eingesetzt habe als sie. Es geht nicht um Muskeln, Kleine, seien es magische oder andere. Es geht um deine Einstellung. Um deinen Geist.“
Sie nickte langsam und sagte: „Darum, Dinge aus den richtigen Gründen zu tun.“
„Du stürzt dich nicht in so eine Sache, weil du stark bist. Du tust es, weil du keine andere Wahl hast. Du tust es, weil es unmöglich ist, dich umzudrehen und zu gehen und später damit zu leben.“
Sie starrte mich eine Sekunde lang an, dann weiteten sich ihre Augen. „Sonst benutze ich meine Macht einfach um des Benutzens willen.“
Ich nickte. „Macht verdirbt. Es ist leicht, darauf zu stehen, sie zu benutzen, Molly. Man muss sie schon mit der richtigen Geisteshaltung verwenden …“
„Sonst benutzt sie dich“, sagte sie. Sie hatte
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