Harry Dresden 09: Weiße Nächte
der Auswirkung der geistigen Attacke Vitto Malvoras abgeschirmt. Die Situation war für sie ganz einfach: Sie konnte einfach mehr als jetzt tun. Oder sie konnte dastehen und keinen Finger krumm machen. Es war ihre Wahl.
Lasciel erschien zum ersten Mal auf Händen und Knien vor mir. Sie sah … seltsam aus. Zu klein, ihre Augen zu eingefallen. Sie hatte immer so beherrscht, gesund und hoffnungsvoll ausgesehen. Nun war ihr Haar völlig wirr, ihr Gesicht schmerzverzerrt und …
… sie weinte. Sie sah ganz aufgequollen aus und brauchte dringend ein Taschentuch. Ihre Hände umschlossen mein Gesicht.
„Es könnte dich verwunden. Es könnte Hirnschäden hinterlassen. Verstehst du, welche Folgen es haben könnte, Harry?“
Konnte ich nicht sagen. Vielleicht war ein Hirnschaden ja ganz nett. Ich mochte Haferbrei, und vielleicht hatten sie in der Irrenanstalt ja auch Kabelfernsehen. Wie auch immer, es war sicher netter, als wenn ein Ghul mein Gehirn auslöffelte.
Lasciel blickte mich einen Moment unverwandt an und stieß dann ein dumpfes Lachen aus. „Es ist Thomas. Deine Freunde. Das ist der Grund.“
Wenn es Murphy, Ramirez, Thomas und Justine einen Ausweg aus diesem Schlamassel bot, war es das wert, mir das Hirn grillen zu lassen.
Sie fixierte mich einen weiteren, langen Augenblick.
Klack: 1:27.
Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem beinahe kindischen Schmollen und blickte kurz über die Schulter, bevor sie sich wieder an mich wandte. „Ich …“ Sie schüttelte den Kopf und meinte mit kaum hörbarer, in Gedanken versunkener Stimme: „Sie … verdient dich nicht.“
Verdient oder nicht, der gefallene Engel würde mich nicht kriegen. Niemals.
Lasciel zog die Schultern hoch und setzte sich auf. „Du hast recht“, sagte sie. „Es ist meine Wahl. Hör mir zu.“ Sie beugte sich über mich und musterte mich aufmerksam. „Jemand hat Vitto Macht geschenkt. Nur so kann er das bewerkstelligen. Er ist besessen.“
Ich wünschte, ich hätte meine Brauen hochziehen können. Besessen wovon?
„Einem Wesen aus den äußeren Sphären“, erwiderte Lasciel. „Ich habe schon einmal so eine Gegenwart gefühlt. Dieser Angriff entspringt direkt den Gedanken eines Fremdwandlers.“
Donnerwetter, das war interessant. Nicht relevant, aber interessant.
„Aber es ist relevant“, widersprach Lasciel. „Durch die Umstände deiner Geburt – warum du geboren wurdest, Harry. Deine Mutter fand die Stärke, Lord Raith zu entkommen, aus einem bestimmten Grund.“
Was zum Geier faselte sie da?
Klack: 1:26.
„Es hatte sich eine einmalige Konstellation aus Ereignissen, Energien und Umständen ergeben, die es einem darunter geborenen Kind ermöglichen würden, Macht über Fremdwandler auszuüben.“
Was keinen Sinn ergab. Fremdwandler waren resistent gegen Magie. Es bedurfte Jahrhunderte der Anstrengungen und der Übung, die nur den mächtigsten Magiern des Planeten zur Verfügung standen, nur um einen ein wenig aufzuhalten.
„Seltsam, wenn man bedenkt, dass du deinen ersten mit sechzehn gebändigt hast.“
Was? Wann? Den einzigen bedeutenden Sieg über ein Geisterwesen hatte ich erlangt, als mein alter Lehrer mir einen dämonischen Mörder auf den Hals gehetzt hatte. Doch das war nicht so abgelaufen, wie DuMorne sich das vorgestellt hatte.
Lasciel beugte sich über mich. „Der Hinter Einem Geht ist ein Fremdwandler, Harry. Eine furchtbare Kreatur und vielleicht einer der mächtigsten Pirscher, ein mächtiger Ritter unter den herrschenden Entitäten. Doch als er hinter dir her war, hast du ihn niedergeworfen.“
Wahr. Hatte ich. Es war alles ein wenig verschwommen, doch ich konnte mich nur zu gut an das Ende der Auseinandersetzung erinnern. Jede Menge Kabumm und kein Dämon mehr. Ach ja, ein Haus war niedergebrannt.
Klack: 1:25.
„Hör mir zu“, sagte Lasciel und schüttelte schwach den Kopf. „Du trägst in dir das Potenzial, große Macht über sie auszuüben. Vielleicht bist du in der Lage, ihnen jetzt zu entkommen. Wenn du sicher bist, dass du es willst, kann ich dir eine Möglichkeit verschaffen, Malvoras Gedanken zu trotzen, aber du musst dich beeilen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, sie abzuschütteln, und die Ghule haben uns beinahe erreicht.“
Nach dieser Angelegenheit würden wir selbstverständlich ein langes Gespräch über meine Mutter und diese Fremdwandler und deren Beziehung zum Schwarzen Rat führen müssen – und darüber, was zur Hölle wirklich ablief.
Lasciel – nein, eher Lash
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