Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
diffuses Licht herunter.
Der Schneefall der letzten Tage hatte die Scheiben der Kuppel fast vollständig unter Schwärze begraben, und die Glastüren waren ebenfalls halb mit frostigen Bergen bedeckt, sodass das einzige Licht im Raum in den winzigen, farbigen Scheinwerfern in dem gigantischen Wassertank bestand. Fische glitten wie Gespenster durch das Aquarium, und ein unheilverkündendes Flackern waberte über ihre Schuppenleiber. Ihre Schatten schwebten scheinbar körperlos über die Wände, wobei sie durch die Entfernung und die Glaswände noch zusätzlich vergrößert wurden.
Es war höllisch unheimlich.
Einer der Schatten erregte meine Aufmerksamkeit, als meine Instinkte meldeten, von ihm gehe eine fühlbare, wenn auch subtile Gefahr aus. Nach einigen Sekunden erst bemerkte ich, dass mich dieser Schatten deswegen so verstörte, weil es der eines Menschen war, der im gleichen Rhythmus wie die der kleinen Haie über die Wand glitt – auch wenn der Mann, der den Schatten warf, völlig bewegungslos dastand.
Nikodemus wandte sich von den Fischen ab, die er still gemustert hatte, und ich konnte sein Profil vor dem Hintergrund der gedämpften Lichter im Aquarium ausmachen. Seine Zähne blitzen goldorange im Licht einer nahen Unterwasserlampe auf.
Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, unbewusst einen Schritt von ihm zurückzutreten.
„Es ist ein Gleichnis“, sagte er leise. Er besaß eine angenehme Stimme, fließend und erstaunlich tief. „Sehen Sie sie sich doch einmal an. Sie schwimmen. Sie fressen. Sie paaren sich. Sie jagen. Sie töten. Sie verstecken sich. Jeder, wie ihn die Natur geschaffen hat. Ihre Welt befindet sich in dauernder Bewegung, ändert sich fortwährend. Eine dauernde Bedrohung und Herausforderung.“ Er holte mit einem Arm zu einer großen Geste aus. „Sie wissen nicht, wie fragil ihre Welt ist oder dass sie von Wesen umgeben sind, die sie mit der Krümmung eines einzigen Fingers töten oder ihre Welt zerstören könnten. Natürlich ist das nicht ihre Schuld.“ Nikodemus zuckte die Achseln. „Sie haben so … enge Grenzen. So sehr, sehr enge Grenzen. Ich grüße Sie, Dresden.“
„Sie übertreiben’s ein wenig mit der Gruselnummer“, murmelte ich. „Wenn Sie schon aufs Ganze gehen wollten, sollten sie sich noch einen Zylinder aufsetzen und Orgelmusik im Hintergrund spielen haben.“
Er lachte leise. Es klang nicht böse, sondern eher volltönend und zuversichtlich. „Wie es scheint, gibt es einige Abweichungen hinsichtlich des Treffens?“
Kincaid schielte zu mir herüber und nickte.
„Die Ordnungshüter dieser Stadt verlangen, dass ein Abgesandter zugegen ist“, antwortete ich.
Nikodemus legte den Kopf zur Seite. „Wirklich? Wer?“
„Ist das wichtig?“, fragte Kincaid gelangweilt. „Das Archiv ist gewillt, dem Wunsch nachzukommen, wenn Sie keine Einwände haben.“
Nun endlich drehte sich Nikodemus ganz zu uns um. Ich konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht erkennen, nur seine Silhouette vorm Aquarium. Sein Schatten aber zog Kreise um uns wie die Haie im Tank. „Zwei Bedingungen“, sagte er.
„Ich höre“, sagte Kincaid.
„Erstens, der Abgesandte erscheint unbewaffnet und das Archiv bürgt für seine Neutralität in Angelegenheiten, die nicht direkt die Pflichten der Ordnungshüter betreffen.“
Kincaid sah mich an. Murphy würde das „unbewaffnet“ nicht behagen, doch sie würde der Aufforderung nachkommen. Vor mir würde sie nie freiwillig den Rückzug antreten – vielleicht auch nicht vor Kincaid.
Trotzdem fragte ich mich, wo Nikodemus’ Problem hinsichtlich einer bewaffneten Polizistin lagen. Handfeuerwaffen machten diesem Mann keine Sorgen. Nicht im Mindesten. Warum also diese Forderung?
Ich nickte.
„Hervorragend“, grinste Nikodemus. „Zweitens …“ Er schritt auf uns zu, wobei jeder seiner Tritte laut über den Marmorboden hallte, bis wir ihn schließlich im Licht des uns am nächsten angebrachten Scheinwerfers ausmachen konnten. Er war ein Mann von alltäglicher Größe und ebensolchem Körperbau. Sein Gesicht war gutaussehend, mit markanten Zügen und dunklen, intelligenten Augen. Eine Spur von Silber hatte sich in seine perfekte Frisur gestohlen, auch wenn er sich für einen Mann von über zweitausend Jahren verdammt gut gehalten hatte. Er trug ein dunkles Hemd, dunkle Hosen und hatte etwas um den Hals, das man bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht für eine graue Westernkrawatte hätte halten können. War es aber nicht.
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