Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
Richtung des Sees. Dann bog der Fahrer jedoch nach Norden ab, und ich erkannte, dass wir auf einen der kleinen Häfen am nördlichen Ende des Lake Shore Drives zuhielten. Ich zwang mich, gleichmäßig und tief zu atmen. Wenn ich den Bösewichten einen Hinweis darauf bot, dass wir ihr Versteck erraten hatten, konnte die Situation schnell aus dem Ruder laufen.
Michael saß mit resoluter Miene völlig gelassen da, und seine Hände ruhten auf der Parierstange Amoracchius’. Er gab fast das Bild eines Heiligen ab, der angesichts seines nahenden Schicksals völlig ungerührt blieb. Hinter uns stieß Sanya ein sachtes, knurrendes Schnarchen aus. Er machte keinen so heiligen Eindruck wie Michael, doch an ruhiger Zuversicht stand er meinem Freund um nichts nach. Mit eher durchwachsenem Erfolg versuchte ich, ihrem Beispiel zu folgen. „Nur nicht herumrutschen, Harry“, sagte ich mir. „Ganz cool bleiben. Du hast Eiswasser in den Adern.“
Der Bus blieb bei einem kleinen Hafen in der Nähe Northerly Islands stehen. Wortlos stieg Rosanna aus, und wir folgten ihr. Sie stapfte über das Ufer zu den Anlegebrücken hinunter. Am Ende einer Anlegestelle war ein kleines Motorboot vertäut. Michael und ich gingen nach ihr an Bord. Sanya löste die Seile, die das Boot hielten, stieß es vom Steg ab und sprang lässig über die größer werdende Distanz ins Boot.
Sie brauchte einige Minuten, doch schließlich startete Rosanna den alten Motor des Bootes und steuerte es von den Lichtern der Stadt weg auf die Dunkelheit, die sich über den See gelegt hatte, hinaus.
Ganz schön unheimlich, wie schnell die Welt um uns herum in Schwärze versank. Das gruselige Feenlicht der Stadt in dem dichten Schneegestöber erstarb hinter uns, und vor uns wurden die Flocken einfach von den unergründlichen Tiefen des Sees verschlungen. Das Boot hopste weiter unbeirrt über die Wellen auf die Mitte des Sees hinaus. Schließlich wurde er selbst von der Finsternis um uns herum verschluckt, und ich konnte kaum noch die Umrisse des Gefährtes und seiner Insassen vor dem Hintergrund der gigantischen Wasserfläche um uns herum ausmachen.
Ich war nicht sicher, wie lange wir so durch die Dunkelheit pflügten. Es fühlte sich an wie eine Stunde, auch wenn kaum halb so viel Zeit verstrichen sein konnte. Das Boot sprang mit einem rhythmischen , dumpfen Wummern über die Wellenkämme und trieb eine Gischtfontäne vor sich her, die den Bug mit einer schimmernden Eisschicht bedeckte. Schließlich erstarb das Wummern des Bootsmotors, und wir hielten an. Ich verlor in der Grabesstille schnell die Orientierung. Ich hatte mein gesamtes Erwachsenenleben in Chicago zugebracht. Ich war einfach an die Stadt gewöhnt, ihren Rhythmus, ihre Musik. Das Brummen und Zischen des Straßenverkehrs, das ständige Hupen, Mobiltelefone, Sirenen, Musik, Tiere und Menschen über Menschen.
Hier draußen, inmitten des riesengroßen, eiskalten Sees, war nichts. Kein Herzschlag einer Stadt, keine Stimmen, rein gar nichts außer dem Plätschern und Gurgeln des Wassers, das an die Bootswand schlug.
Ich wartete einige Minuten ab, in denen das Boot auf den Wellen des Sees hin und her schaukelte. Nun, da uns kein Motor mehr antrieb, machte ich mir ernsthaft Sorgen, da sie uns doch ordentlich durchschüttelten, doch ich wollte nicht derjenige sein, der als Erster zu winseln begann.
„Nun?“, meldete sich Sanya fünf Sekunden, bevor ich schwach geworden wäre. „Worauf warten wir?“
„Ein Signal“, brummte Rosanna. „Mir wäre es lieber, wenn ich nicht gezwungen wäre, den Bootsrumpf an den Felsen aufzureißen und uns alle zu ertränken.“
Ich griff in die Manteltasche, zog eines dieser chemischen Knicklichter hervor, bog es in der Mitte um und schüttelte es kräftig, um es zum Leben zu erwecken. Ein grünliches Leuchten waberte durch die Luft und badete die Umgebung in annehmbares Licht, vor allem, wenn man bedachte, wie finster es die letzte halbe Stunde gewesen war.
Rosanna drehte sich um und blickte auf das Licht. Während der Fahrt hatte sie ihre menschliche Gestalt abgestreift und hatte erneut ihre dämonische Form mit blutroter Haut, Ziegenbeinen und Fledermausflügeln angenommen, in der ich sie im Shedd Aquarium gesehen hatte. Ihre Augen, sowohl ihre braunen als auch die grün leuchtenden, fixierten das chemische Licht, und ein Lächeln entblößte ein paar glänzend weißer Fangzähne. „Keine Magie, Zauberer? Hast du Angst, dass du dermaßen geizig mit deiner Kraft
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