Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
Sanya folgte direkt hinter ihr, dann war ich an der Reihe, und Michael bildete das Schlusslicht. Es war kein langer Marsch, aber es war erstaunlich, wie viel Ärgernisse das Schicksal für uns in diese kurze Zeitspanne packte. Die kleine Stadt hatte einmal einer Firma gehört und war um eine Dosenfabrik angeordnet – ein langgestrecktes Gebäude am Ende der verwüsteten Straße, das nun in seine Einzelteile zerfiel.
Den halben Weg auf den Hügel hinauf verlief ein Pfad, der die letzten Tage offensichtlich vielfach benutzt worden war. Jemand hatte ihn von Schnee befreit und einen Weg freigelegt, den jemand in den Fels des Hügels geschlagen hatte. Gemeißelte Steinstufen führten zur Spitze des Hügels hinauf. Als wir uns den Stufen näherten, konnte ich das Schemen am Gipfel genauer erkennen, da es im Flackern des großen Feuers nun deutlicher auszumachen war.
„Ein Leuchtturm“, brummte ich. „Oder das, was noch davon übrig ist.“
Vor langer Zeit mochte es sich einmal um einen zwanzig Meter hohen Turm gehandelt haben, doch er war in gut sieben Metern Höhe zerborsten, als hätte ihn die Hand eines Riesen abgeknickt. Leuchttürme waren an den Ufern aller großen Seen zu finden, und wie bei allen derartigen Gebäuden hatten sich jede Menge seltsamer Geschichten um sie entsponnen. Über diesen war mir noch keine zu Ohren gekommen – aber als ich mit den grauen Steingiganten so ansah, beschlich mich das ungute Gefühl, dass ja auch jemand hätte überlebt haben müssen, um die Geschichten zu verbreiten.
Dieser unheimliche Turm gab mir das Gefühl, dass ich mich nicht nur an einem Spukort befand – sondern dass ich mich an einem Spukort der obersten Liga befand, der sein Haupt niemals kapitulierend vor Fortschritt, Zivilisation, Wissenschaft und Vernunft gebeugt hatte, und der um keinen Deut mehr Achtung vor diesen Kreationen des menschlichen Geistes hatte als vor deren Erschaffern selbst. Die Insel schien fast am Leben und sich meiner Gegenwart bewusst zu sein, auch wenn ich es nicht in Worte fassen konnte, auf welche Weise – meiner bewusst und auf heimtückische Art feindselig eingestellt.
Aber das war nicht das Unheimliche daran.
Das Unheimliche war, dass es sich so vertraut anfühlte.
Als ich die Steintreppe emporstieg, verfielen meine Füße in einen gleichmäßigen Bewegungsrhythmus, als hätte ich diesen Weg schon Tausende Male beschritten. Ich mied aus einem mir nicht bewussten Grund instinktiv eine Stufe, nur um zu hören, wie Michael, der hinter mir ging, auf dem lockeren Stein ausglitt. Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken rückwärts zählte, und als ich bei Null war, hatten wir die letzte Stufe erklommen und somit den Gipfel des Hügels erreicht.
Irgendwie wussteich, bevor ich es sah, dass eine Seite des Leuchtturmes in Richtung des Himmels aufgerissen war und den Blick auf das Gebäudeinnere freigab, das so hohl, leer und trostlos war wie ein Gewehrlauf. Ich wusste, dass das kleine Steinhäuschen, das am Fuße des Leuchtturmes errichtet war, noch verhältnismäßig intakt sein würde, auch wenn die Hälfte des Schindeldaches nach innen eingestürzt war und dringend repariert werden musste. Ich wusste, dass es aus den Steinen des verfallenen Leuchtturms bestand. Ich wusste, dass die Vordertür knarrte, wenn man sie öffnete und die Hintertür, die wir von unserem Standort aus nicht sehen konnten, während eines Regengusses aufquellen und klemmen würde wie die …
… bei mir daheim.
Ich wusste auch, wie verdammt abgefahren das alles war, doch konnte ich mir nicht leisten, mich dadurch ablenken zu lassen.
Nikodemus und Konsorten warteten auf uns.
Der Schneeregen begann, die Umgebung mit einer dünnen Eisschicht zu überziehen, doch das Signalfeuer, das vor dem klaffenden Loch in der Turmwand aufgeschichtet worden war, war groß genug, um das zu ignorieren. Die Flammen leckten gut drei bis vier Meter in die Höhe und loderten in einem unheimlichen, leicht violett eingefärbten Licht, und das Eis, das sich um uns herum auf die Häuser und den Schnee legte, schuf das Trugbild eines violetten Dunstes, der an allem Unbelebten zu haften schien.
Neben dem Signalfeuer waren Felsen zu etwas aufgeschichtet, das am ehesten an den Thron eines uralten heidnischen Königs erinnerte. Natürlich saß Nikodemus auf diesem Platz. Tessa stand zu seiner Rechten. Zum ersten Mal, seit wir uns begegnet waren, hatte sie ganz menschliche Gestalt angenommen. Sie war ein dürres Mädchen, das kaum alt
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