Hartmut und ich: Roman
mich erst nach einigen Stunden, zu seinem Zimmer zu gehen. Ich habe ihn vertrieben. Ihn, den Süchtigen. Es ist drei Uhr nachts, als ich zu seiner Tür gehe und vorsichtig horche. Der Fernseher läuft immer noch. Star Trek 7 . Der Bösewicht Dr.Soran sagt: »Es heißt doch, die Zeit ist das Feuer, in dem wir verbrennen!« Leise werden Streicher im Hintergrund eingespielt. »Und jetzt, Captain«, sagt Soran, »läuft mir die Zeit davon!« Ich öffne die Tür und gehe hinein. Hartmut sitzt auf dem Teppich, die Videos und Hüllen überall um ihn verstreut. Das Zimmer sieht schlimmer aus als je zuvor. Es erinnert mich an die Reportage über Messies, die wir zusammen gesehen haben, gleich nach Jochens Schwertransporten. Da konnte Hartmut noch abschalten. Es scheint lange her. Er drückt auf Pause und sieht mich an. »Es reicht nicht!«, sagt er. »Es ist nie genug! Es reicht niemals!« Er rückt sich ein wenig zurecht und dreht seinen Körper in meine Richtung. »Die Dimension, von der du gesprochen hast, die Dimension zwischen den Kanälen«, fährt er fort, und das erste Mal sehe ich Feuchtigkeit in seinen Augen, »sie existiert nicht. Ich habe sie gesucht, so oder so. Ich habe mich immer wieder auf die nächste Sendung gefreut, verstehst du? Immer die nächste. Wenn es ein Uhr nachts ist und du liest in der Fernsehzeitung, dass um zwei Uhr noch mal dieser Film mit Arnold wiederholt wird oder dieser klasse Krimi, dann, dann … «, er zögert ein wenig, als wäre es ihm peinlich, »dann freust du dich so, verstehst du? Dann bist du irgendwie zu Hause.« Auf, unter und neben seinem Schreibtisch liegen die offenen Ordner. Der Kleiderschrank ist leer, die Wäsche liegt überall. Er muss seit Wochen nicht gewaschen haben. »Weißt du, was Dr.Soran gleich sagen wird?«, fragt Hartmut und zeigt mit dem Finger auf das Standbild. Ich sage: »Irgendwas über die Zeit.« Hartmut lächelt traurig und antwortet: »Er sagt: ›Wir lassen in unserem Leben so viele Dinge unerledigt zurück.‹« Dann steht Hartmut auf, geht zu seinem Schreibtisch, öffnet eine Schublade und holt einen Stapel Zettel heraus. »Weißt du, was das ist?« Ich schüttele den Kopf. »Ideen! Lose, unfertige Ideen! Haben sich alle angesammelt! Liegen hier drin und lachen über mich! Lachen mich aus!« Er rupft den Stapel auseinander. »Roman, Roman, Kurzgeschichte, Aufsatz, Gedicht, Hausarbeit … ach, und sieh mal, hier steht ›Trödelstand machen‹, und hier ist eine Liste, was ich alles mal lesen wollte, und hier, noch ein Buch, das ich mal schreiben wollte und … «, er lässt die Schultern sinken und zeigt auf den Boden, »waschen muss ich ja auch noch!« Dann lacht er bemüht. Er kommt wieder zu mir, sieht mich an und sagt: »Ich hab mir oft gewünscht, ich könnte so sein wie du. Aufstehen, arbeiten gehen, Rad fahren, essen, spülen, Playstation spielen, in die Wanne gehen, eine Platte hören, ein Buch lesen, einen Film sehen. Aber ich kann nichts mehr zu Ende machen. Weil ich nichts mehr anfangen kann. Deshalb kann ich nicht mehr aufhören.« Er deutet auf den Fernseher. »So kann ich mich immer auf den nächsten Film freuen. Irgendwie hat das Struktur. Und ich sage mir dann immer: ›Alles andere mache ich danach, in einem schönen großen Abwasch!‹« Er lacht makaber und zieht die Nase hoch. Ich brauche ihn nicht mehr aus diesem Körper zu zerren. Hartmut ist wieder da.
Ich beuge mich zum Fernseher runter, schalte ihn aus, hole die Kassette raus und packe sie in ihre Hülle, knipse den Videorecorder ab, nehme das Verbindungskabel, gehe ins Wohnzimmer, hole das Kabel, das zur Anschlussbuchse führt, baue mich vor Hartmut auf, der leise protestieren will und doch wieder Glanz in den Augen hat, und frage: »Haben wir noch irgendwo im Haus Kabel, die mit Fernsehprogramm und Videorecorder zu tun haben?«
Hartmut schüttelt den Kopf.
»Ganz sicher nicht?«
»Nein«, sagt Hartmut. Dann geht er zu seinem Computer und gibt mir sein Modemkabel, um auch das Internet zu kappen. Ich lächele. »Und jetzt Augen zu!«, sage ich und gehe aus der Wohnung ums Haus in die Scheune und verstecke die Kabel dort sorgfältig in einer alten Kühlbox. Als ich zurückkomme, steht Hartmut in der Küche und gießt sich ein Glas Milch mit Kakaopulver ein. Ruhig rührt er in dem Glas herum. Die Lampe über der Spüle wirft ein gemütliches Licht.
»Hab sie versteckt!«, sage ich.
»Danke!«, sagt Hartmut. Es wirkt fast so, als wolle er sich von seinem Milchglas
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