Hartmut und ich: Roman
habe. Hartmut öffnet mit einem »Plopp!« die vakuumverschlossene Biomilchflasche. Er lebt auch selbst gesünder, seit er es den Leuten empfiehlt.
»Und der Student«, fährt er fort, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Er weist jetzt einen Milchbart auf. »Der hat sich bereits für die Diplomarbeit angemeldet und noch nicht mal vorher angefangen. Noch nicht mal ein wirkliches Konzept erstellt. Ich möchte den Professor sehen, der das durchgewunken hat. Jetzt steht er da, die Uhr tickt, und im Grunde will er, dass ich ihm die Arbeit schreibe. Aber so geht’s auch nicht. So geht’s ja auch nicht.«
Ich habe den Eindruck, dass Hartmut nicht gerade entspannt ist, wie er da so seine Klienten in Sachen Stressbewältigung beraten muss, aber ich halte den Mund. Ich weiß, dass er es gut macht, sonst hätte er nicht in zehn Wochen an die vierzig Kunden akquiriert. Ich habe mal ein, zwei Abschnitte seiner Texte gelesen. Sie waren wirklich tauglich. Originell, spritzig, genau auf das Leben der Leute zugeschnitten. Er scheint sich reinfühlen zu können, er ist ein perfekter Überzeuger. Nach seinen Mails räumen Messies plötzlich gerne auf, und ausgenutzte Fleißmännchen lernen, »Nein!« zu sagen. Er kann das, der Hartmut. Die Kunden sehen ja nicht, was hier in unserer Küche passiert. Küche ist backstage. Angus Young von AC/DC ist auch ein braver, einfacher Mann, wenn er von der Bühne geht. Und André Rieu bestellt bestimmt Nutten und Koks. Hartmut stellt die Milch zurück, grinst kurz zu mir rüber und geht wieder in sein Zimmer. Sein Computer surrt zehn Stunden am Tag, seit zehn Wochen. Er schreibt jetzt der Frau mit dem Mann und dem Studenten mit der Diplomarbeit.
Ein paar Tage später höre ich ihn, wie er um vier Uhr morgens in der Küche hantiert. Eine Schüssel wird auf Holz gestellt, ein Karton raschelt, Cornflakes werden eingefüllt, Milch plätschert. Dazu ein knappes, lautes Atmen. Ich muss ohnehin pinkeln, stehe auf, gehe in Unterhose in die Küche, reibe mir die Augen und frage ihn, was er da macht. »Aufstehen!«, sagt er kurz angebunden und rammt den Löffel kaum merklich, aber heftig in die Schüssel. »So früh?«, frage ich und kratze mich genital.
»Ich muss wenigstens heute um zehn Uhr dieses Hauptseminar besuchen. Ich muss aber auch noch vier Leuten antworten. Teilweise echt schwere Fälle. Da brauche ich ’ne Stunde pro Mail.« Er nimmt die Schüssel in die Hand und dreht sich um. Er sieht dunkel aus vor dem Licht über der Spüle, ich spüre die kalten, beigebraunen Kacheln auf dem Boden und lese die Schriftzüge der Band-Aufkleber auf unserem Kühlschrank. Ich bin ziemlich zerschlagen. Als würde ich mit meinem kurzen Schweigen einen Vorwurf äußern, sagt Hartmut: »Ich studiere schließlich auch noch gleichzeitig!«, sieht mich einen kurzen Moment so an, wie die Frau mit dem Mann ihren Gatten anschauen würde, und geht schnellen Schrittes in sein Zimmer. Ich will ihm noch sagen, dass er die Anzahl seiner Kunden vielleicht beschränken sollte, wenn er gleichzeitig noch sein Studium weitermachen will, und wie es vielleicht doch mal mit Textbausteinen wäre, aber da knallt auch schon seine Tür zu, und er tippt die erste Beratungsmail des jungen Tages. Ganz persönlich, versteht sich. Der gute, allzu gute Hartmut.
Um zwölf Uhr komme ich früher von der Arbeit heim, schiebe eine Pizza in den Ofen und finde einen Zettel auf dem Küchentisch. Es ist ein Notizblatt von Hartmut, überschrieben mit »Methoden« und verziert mit dem runden Abdruck einer Kaffeetasse. »Sich auf etwas freuen können / sich etwas gönnen / es dann auch wirklich tun«, steht darauf geschrieben, das »wirklich« ist unterstrichen, darunter kommen Beispiele wie in einer Liste. »Vgl. Playstation und Wanne«, steht da, und mir wird klar, dass Hartmut meine Gewohnheiten als vorbildhafte Entspannungsmethode seinen Klienten empfiehlt. Es schmeichelt mir, dass mein Leben anderen irgendwie helfen kann, und zugleich macht es mich nachdenklich, dass es Leute gibt, denen man beibringen muss, dass sie sich ein Wannenbad oder ein Spielchen nicht nur vornehmen, sondern dann auch wirklich gönnen sollen. Wenn ich Feierabend habe, habe ich Feierabend. Meine Pizza klingelt. In der Wohnungstür dreht sich der Schlüssel.
Als gegen 20 Uhr das Telefon läutet und ich Hartmut für eine gewisse Mona ans Telefon holen soll, winkt dieser ab und deutet mir mit Zeichensprache, nicht da zu sein. Als ich aufgelegt habe, nähert sich seine
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