Hass
existent und empfindungsfähig ist.«
Julia sagte: »Unter den Hellsehern gibt es tatsächlich viele Scharlatane, Möchtegerne und Tatsachenverdreher. Ich habe mal ein weibliches Medium gesehen, das einen armen jungen Mann am Haken hatte. Sie hat ihm erzählt, dass seine Mutter direkt neben ihm stehe und sie wolle, dass er nicht mehr trauere, dass er sich jetzt auf sich selbst verlassen und mit seinem Leben weitermachen müsse. Sie liebe ihn noch genauso wie vor ihrem Tod. Das Medium merkte, dass es wohl einen Fehler gemacht hatte, weil der junge Mann nicht reagierte, und wechselte abrupt die Richtung. Sie deutete an, dass der junge Mann mit seiner Mutter wohl nicht gut ausgekommen sei, und als er nickte, wusste sie, dass sie ihn hatte. Dann spekulierte sie immer weiter, wie seine Mutter zu Lebzeiten so gewesen war – dass sie immer bekam, was sie wollte, und alle nach ihrer Pfeife tanzen ließ -, und der junge Mann nickte weiter. Sie hat sein Schuldgefühl benutzt, und am Ende weinte er und umklammerte ihre Hand. Wie schäbig muss man sein, damit man einem verwundbaren Menschen eine solche Lüge auftischt? Und alles fürs Geld, vielleicht einen Namen und Selbstverherrlichung.
Ich sage Ihnen, Cheney, August verabscheute diese Aalglatten – so bezeichnete er die sogenannten hellsichtigen Medien im Fernsehen. Man muss nur die langen Einverständniserklärungen lesen, die jeder Talkshow-Besucher unterschreiben muss, um zu wissen, dass etwas an der Sache faul ist. Im Grunde verpflichtet man sich, sein ganzes Leben lang zu niemandem ein Sterbenswort darüber zu sagen, was in der Show alles passiert ist. Wahrscheinlich muss man auch über den eigenen Tod hinaus noch darüber schweigen.«
Cheney warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Es gibt Einverständniserklärungen?«
»Ist das nicht ein starkes Stück? Die Produzenten und Hellseher wollen sich absichern. Jemand könnte ja später der Presse erzählen, wie sorgfältig die Show geschnitten wurde und wie lange der Hellseher im Dunkeln getappt hat.
August nannte es die Zirkusphilosophie: Gib den Leuten, was sie sehen wollen! Wenn sie Schmerzen haben, sei der mitfühlende Experte, der den Schmerz beseitigt. Bei Trauernden funktioniert das alles. Sie übersehen die größten Patzer – oder Fehlgriffe, wie sie heißen – und glauben trotzdem daran, dass Onkel Albert neben dem Medium steht, sie beschützt und glücklich wie ein Fisch im Wasser ist, besonders darüber, dass es ihnen selbst so gut geht – und sie sollen sich bitte keine Sorgen um ihn machen.«
Cheney sagte: »Und Onkel Albert wollte dem Medium nicht mal seinen Namen verraten? Verblüffend, was man Menschen alles weismachen kann.«
Julia nickte. »Man braucht schon einiges an Talent, um so einen großen Schwindel durchzuziehen und die Leute davon zu überzeugen, dass sie mit den Toten sprechen. Manche Medien rechtfertigen sich und sagen, dass sie den Menschen mit ihrer eigenen Art von Therapie durch ihre Trauer helfen. August glaubte nie an Lügen. Wenn diese Leute Trauerbegleiter sein wollen, dann sollten sie es auch so sagen.«
Cheney sagte nachdenklich: »Das verstehe ich nicht, Julia. Hat August denn nicht auch behauptet, er könne mit Toten sprechen?«
»Ja.«
»Haben die Toten ihm wenigstens ihre Namen gesagt?«
»Weiß ich nicht, weil seine Konsultationen immer vertraulich waren. Er hat nie mit mir oder jemand anderem darüber gesprochen.«
»Aber Sie glauben, dass er mit Toten kommunizierte und ihnen Nachrichten von den trauernden Hinterbliebenen übermittelte?«
»Er hat mit Lincoln gesprochen, und ich habe ihm das geglaubt.«
Sie klang so bestimmt und sicher in ihrem Glauben. Er betrachtete sie. Was sollte er nur denken? Er würde über das Ganze einfach hinwegsehen. Offensichtlich hatte sie ihrem Mann alles abgekauft. Sie würde ihn ihm gegenüber nicht verteidigen müssen.
Jemand hupte, und Cheney konzentrierte sich wieder auf die Straße. Endlich, die Ausfahrt nach Livermore. »Sie müssen mir später mehr darüber berichten, aber in den nächsten fünf Minuten sollten Sie mir erst einmal etwas von Kathryn Golden erzählen.«
Sie sagte: »Ich denke, Bevlin hat unrecht damit, dass Kathryn in August verliebt gewesen ist. Sie ist viel zu … besonnen, das ist wohl das richtige Wort, zu konzentriert auf sich, um so jemanden zu lieben. Übrigens, wenn sie ihn gewollt hätte, warum sollte sie ihn dann umbringen? Wieso nicht mich? Das passt nicht zusammen.«
»Vielleicht hat sie ihn
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