Haus der Erinnerungen
los, Kind ? Fühlst du dich nicht wohl ?«
»Du hast wahrscheinlich doch recht gehabt, Großmutter, ich habe anscheinend die Grippe erwischt. Ich fühle mich ziemlich flau.« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt, wieder in den Regen hinaus. Was um alles in der Welt, war gestern nacht in dem Schrank gewesen ?
»Ja, du bist auch sehr blaß. Trink wenigstens deinen Tee, Kind. Der tut dir bestimmt gut.« Sie drückte mir die Tasse in die Hand. »Komm, Kind, trink.«
Ich trank ihr zuliebe ein wenig Tee, aber es kostete mich Anstrengung, ihn hinunterzuwürgen. Mein Magen rebellierte bei dem Gedanken an Essen oder Trinken. Und während ich zum Fenster hinausstarrte in den Regen, dachte ich, so regnet es auch in meiner Seele.
Schweigend saßen wir uns gegenüber. Großmutter bestrich sich ein Brötchen mit Butter und aß es bedächtig. Ich lauschte dem Ticken der Uhr und dem unerträglich langsamen Verstreichen der Zeit.
Ein Klopfen an der Haustür schreckte mich auf. Großmutter stand mühsam auf und humpelte aus dem Zimmer. Ich hörte die Stimmen Elsies und Eds.
»Mistwetter!« schimpfte Elsie, als sie hereinkam und sich schüttelte wie ein Hund.
Nachdem sie sich aus ihren dicken Sachen geschält und die Gummistiefel ausgezogen hatte, stellte sie sich mit dem Rücken vor den Kamin und lupfte ihren Rock. »Hallo, Andrea«, sagte sie zu mir. »Wie geht's dir denn heute morgen?«
»Hallo, Elsie -«
»Herrgott noch mal, bist du blaß! Hast du nicht gut geschlafen ? Ist es dir hier nachts zu kalt ? Schau dich doch an, du hast ja kaum was auf dem Leib.«
Ich blickte auf mein T-Shirt hinunter, dann zu Elsie hinüber, die über ihrem Rolli noch einen dicken Wollpullover trug. Dennoch fror sie und rieb sich fröstelnd die Hände. »Nein, mir ist nicht kalt.«
»Der Heizofen geht dauernd aus«, bemerkte Großmutter, die hinter Ed ins Zimmer kam. »Ich muß den Gasmann kommen lassen. Hier, trinkt eine Tasse Tee. Ich hab genug da.
Ach, Andrea, du hast deinen ja kaum angerührt.«
»Das ist schon die zweite Tasse, Großmutter«, log ich. »Ich hab mir noch mal eingeschenkt, als du rausgegangen bist.« Sie tätschelte mir die Hand. »Das ist gut.«
»Sie sieht wirklich nicht gut aus, Mama«, bemerkte Elsie, als sie sich zu uns an den Tisch setzte, während Ed, nachdem er sich Tee eingeschenkt hatte, zum Kamin hinüberging.
Ich beobachtete ihn verstohlen. Ich hatte Angst, er würde das Gas höher drehen. »Ach, aber mir geht's wirklich ganz gut. Kann ich heute mit euch ins Krankenhaus fahren?«
»Bestimmt nicht. Wir wissen selbst noch nicht, ob wir überhaupt hinfahren. Dieser Regen ist schrecklich! - Kann ich ein Brötchen
haben, Mama? Danke. Die Straßen sind wie leergefegt. Der Regen prasselt nur so.
Schaut doch.«
Großmutter und ich wandten uns zum Fenster. »Ich komm mir vor wie in einem Goldfischglas«, erklärte Großmutter. »Wie sieht's denn mit morgen aus? Glaubst du, wir können fahren?«
»Wenn das so weitergeht, wird's vielleicht nichts werden.« Ich hob fragend den Kopf.
»Fahren? Wohin denn?«
»Na, zu Albert. Du weißt doch.«
»Ist morgen Sonntag?«
»Logischerweise, da heute Samstag ist.«
Das hieß, daß ich schon eine volle Woche hier war. Eine ganze Woche war vergangen, und mir war es kaum bewußt geworden. Einerseits kam es mir vor, als wäre ich gerade erst angekommen, andererseits, als wäre ich schon seit Jahren hier. »Ann kommt extra aus Amsterdam. Sie möchte Andrea so gern kennenlernen.«
Großmutter stand auf und ging zum Büffet, um das gerahmte Foto ihrer drei anderen Enkel zu holen - Albert, Christine und Ann. Sie setzte sich wieder zu uns und hielt mir die Aufnahme hin. »Das war vor zwei Jahren«, sagte sie, »als...« Ich blendete ihre Stimme aus, und das Bild verschwamm vor meinem Blick. Diese Menschen interessierten mich nicht. Ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam, verspürte keinerlei Verlangen, sie kennenzulernen. Die anderen waren es, meine Vorfahren, zu denen ich mir Kontakt wünschte.
Abgerissene Worte drangen zu mir durch, während Großmutter und Elsie auf mich einredeten. Etwas von einem Häuschen an der Irischen See; von breiten Stranden; von Piers mit Restaurants und Tanzlokalen; von abendlicher Festbeleuchtung. Ich sah die beiden an und fragte mich, wie ich einen ganzen Tag in ihrer Gesellschaft aushaken sollte, wie ich es fertigbringen sollte, dieses Haus zu verlassen, an die Westküste zu fahren, um
Weitere Kostenlose Bücher