Haus der Lügen - 8
verspürte zwar aufrichtige Befriedigung darüber, der ›Vierer-Gruppe‹ und ihren Lakaien die Fracht dieser Brigg abgejagt zu haben. Aber er hatte keinerlei Freude an dem Gedanken, der Besatzung des kleinen Schiffes alles zu nehmen, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.
Aber dagegen kann ich nichts tun, außer dafür sorgen, dass sie so gut behandelt werden wie nur möglich, bis wir sie irgendwo an Land bringen können.
Er atmete tief durch, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging langsam auf der Luvseite des Decks auf und ab.
Juni,
im Jahr Gottes 894
.I.
Königlicher Palast, Stadt Manchyr, Fürstentum Corisande
»Also, Koryn, was meinst du, worum es eigentlich geht?«
»Vater, wenn ich das wüsste, könnte ich gleich auch noch Gedanken lesen und das Wetter vorhersagen. Ich wüsste, welches Pferd das nächste Rennen gewinnt und wohin meine linke Socke verschwunden ist«, erwiderte Sir Koryn Gahrvai. Graf Anvil Rock lachte.
»Zumindest können wir einige Vermutungen anstellen, Rysel«, meinte Sir Taryl Lektor. Graf Tartarian saß am anderen Ende des großen Konferenztisches und reinigte sich mit der Klingenspitze eines Taschenmessers die Fingernägel. Er wirkte locker und entspannt. Die Stiefel hatte er auf die Sitzfläche des Sessels gelegt, der eigentlich dem Grafen Craggy Hill vorbehalten war. Gahrvai vermutete keinen Zufall darin, dass Tartarian sich gerade dieses Möbelstück als Fußbank ausgewählt hatte.
»Na, dann legen Sie los mit Ihren Vermutungen, Taryl!«, forderte Anvil Rock ihn auf.
»Zunächst einmal«, setzte Tartarian an, »hat Captain Athrawes darum gebeten, nur mit uns vieren zu sprechen, nicht mit dem gesamten Rat. Zweitens wissen wir alle doch ganz genau, wie nah der Seijin dem Kaiser steht – und wenn ich mich nicht sehr täusche, gilt das für die Kaiserin ebenso. Drittens wird Erzbischof Maikel nicht anwesend sein.«
Er hielt inne und hob die rechte Hand, um seine Fingernägel zu begutachten. Anvil Rock stieß ein Schnauben aus.
»Und diese drei Dinge bringen Ihren gewaltigen Intellekt zu welchen Schlussfolgerungen?«
»Ich vermute, dass der gute Captain uns eine Nachricht überbringen will«, erwiderte Tartarian. »Angesichts des Fernbleibens des Erzbischofs wird es sich dabei vermutlich um eine Nachricht rein weltlichen Inhalts handeln. Womöglich sogar etwas, das die Kirche gar nicht wissen möchte.«
»Und warum hat er dann Ihrer Ansicht nach so lange damit gewartet, besagte Nachricht zu übermitteln?«
»Das ist schon ein wenig schwieriger zu beantworten«, gestand Tartarian ein. »Einerseits wissen wir, dass der Strom an Nachrichten, der die Charisianer hier erreicht, nie abreißt. Daher scheint mir am wahrscheinlichsten, dass es um etwas geht, das dem Captain noch gar nicht bekannt war, bis Cayleb ihm eine Depesche zukommen ließ.«
»Nur, Mein Lord«, warf Sir Charlz Doyal respektvoll von seinem Platz neben Gahrvai aus ein, »sind Cayleb und Sharleyan vor mehr als einem Monat nach Tellesberg aufgebrochen. Das bedeutet, sie befinden sich derzeit auf hoher See, und das dürfte es ein wenig schwierig machen, Seijin Merlin eine Depesche zukommen zu lassen.«
»Mit ungestümen und impulsiven Burschen, die auf Argumentationslücken in den Worten älterer, weiserer Männer hinweisen, soll es ja schon manches Mal ein schlimmes Ende genommen haben«, bemerkte Tartarian trocken, ohne einen der Anwesenden gezielt anzublicken. Doyal (der nun wirklich nicht so viel jünger war als der Graf) lachte leise in sich hinein.
»Trotzdem hat Taryl vielleicht nicht ganz Unrecht«, warf Anvil Rock ein.
»Natürlich nicht. Wäre es anders, würde ich ihn mit der todbringenden Macht meiner eigenen Logik einfach vernichten, und damit wär’s gut. Aber so bin ich gezwungen zuzugeben, dass ich keinen blassen Schimmer habe, warum der Seijin so lange damit gewartet hat, das Thema anzusprechen, um das es hier gehen wird – was immer es nun sein mag. Da!« Nun befasste er sich mit den Fingernägeln der anderen Hand. »Ich habe es zugegeben: Auch ich bin nicht unfehlbar!«
»Dass ich das noch erleben darf!«, sagte Anvil Rock, und nun war es an Gahrvai zu lachen.
In Wahrheit tappten sie alle im Dunkeln, was das Thema anging, das Captain Athrawes mit ihnen besprechen wollte. Allerdings war die Stimmung im Ratssaal ungleich entspannter – und zuversichtlicher –, als noch vor wenigen Monaten.
Immer noch war Gahrvai bitter erzürnt über die Ermordung Pater
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