Haus der Lügen - 8
Staynair die Kirchenspaltung weiter vorantrieb. Und doch, trotz all der eisenharten Kraft seines persönlichen Glaubens und seines Widerstands gegen das Vikariat und die ›Vierer-Gruppe‹, umgaben den Erzbischof der Kirche von Charis Sanftmut und Güte, was nur ein wahrhaft bigotter Mensch hätte bestreiten können.
Viele wahrhaft bigotte Bürger von Corisande taten genau das. Aber Gahrvai hatte erlebt, wie Staynair das Hauptschiff fast aller Kathedralen und Kirchen der Hauptstadt hinabgeschritten war. Mit eigenen Augen hatte Sir Koryn gesehen, wie der ›fremde Erzbischof‹, der ›abtrünnige Ketzer‹ und der ›Diener Shan-weis‹ Kindern die Hand auf das Haupt gelegt und mit den Eltern gesprochen hatte, wie er ganze Prozessionen dazu gebracht hatte, anzuhalten, weil er hier und dort noch ein paar Worte mit jemandem wechseln oder einen Segen erteilen wollte. Für all jene, deren Aufgabe es war, das Leben des Erzbischofs zu schützen, musste sein Verhalten ein einziger Albtraum sein. Denn es war schlichtweg unmöglich sicherzustellen, dass wirklich keiner der Besucher jener Gotteshäuser einen Dolch unter seiner Kleidung verbarg.
Trotzdem hatte Staynair sich direkt an das Volk gewandt, hatte die Gemeinde in die Arme geschlossen und willkommen geheißen. Alle, die sich in den Kirchen Corisandes versammelten, wussten von dem, was seinerzeit in der Kathedrale von Tellesberg geschehen war. Ihnen allen war bewusst, dass dem Erzbischof klar war, wie einfach es wäre, einen solchen Angriff auf ihn zu wiederholen. Dennoch riskierte er es, sich unters Volk zu mischen.
So hatte ein Erzbischof sich nicht zu verhalten! Erzbischöfe mussten sich doch wie Fürsten benehmen oder gar wie Könige! Man erwartete von ihnen, dass sie ihre Erzdiözesen nur einmal im Jahr besuchten. Einen Gottesdienst mochten sie in der Kathedrale abhalten, die sich unmittelbar neben ihrem Palast befand. Aber sie suchten doch keine kleinen Gemeindekirchen auf – so wie Sankt Kathryn oder die Kirche der Siegreichen Erzengel! Ein Erzbischof hatte sich auf dem Mittelgang des Hauptschiffes zwischen den Reihen der Gemeinde entlangzubewegen wie ein Fürst von Mutter Kirche, der er nun einmal war. Es gehörte sich einfach nicht, dass ein Erzbischof stehen blieb, um ein Kleinkind auf den Arm zu nehmen, einem weinenden Kleinen tröstend die Hand auf den Kopf zu legen oder einer trauernden Witwe einen Segen zu spenden. Erzbischöfe sprachen das Recht der Kirche; sie verkündeten Verfügungen und sie herrschten. Aber sie nahmen keinen schmuddeligen Sechsjährigen auf den Arm und kitzelten ihn, bis er lachte, und achteten überhaupt nicht auf ihre kostbare Soutane, wenn sie eines der Waisenhäuser von Mutter Kirche aufsuchten. So etwas passierte einfach nicht!
Ganz Corisande wusste nicht, was es über diesen Erzbischof der Kirche von Charis zu denken hatte. Nicht einmal Gahrvai selbst war sich sicher, was er von Staynair halten sollte. Koryn Gahrvai war es einfach nicht gewohnt, einem Heiligen zu begegnen ... vor allem , dachte er noch ein wenig grimmiger, nicht einem Heiligen in den Gewändern eines Erzbischofs!
Ein Geräusch, das Knarren einer Tür, die vorsichtig geöffnet wurde, riss ihn aus seinen Gedanken. Mit konzentriertem Blick betrachtete er Merlin Athrawes, als dieser den Ratssaal betrat.
Der Seijin trat vor den Konferenztisch und verneigte sich höflich.
»Meine Lords, ich danke Ihnen, dass Sie mir gestatten, mit Ihnen zu sprechen«, ergriff er das Wort.
»Ich glaube, es war nie sonderlich wahrscheinlich, dass wir Euch das nicht gestatten würden«, stellte Anvil Rock trocken fest.
»Das vielleicht nicht.« Merlin lächelte. »Aber es gilt ja immer noch einen gewissen Schein zu wahren.«
»Das wohl.« Nachdenklich neigte Anvil Rock den Kopf ein wenig zur Seite. »Es wird Euch gewiss nicht überraschen zu hören, dass wir bereits darüber spekuliert haben, warum Ihr mit uns zu sprechen wünscht, Seijin Merlin. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr im Auftrag des Kaisers und des Kaiserreichs hier seid?«
»Selbstverständlich bin ich das.«
»Dann sollten wir Euch vielleicht bitten, Platz zu nehmen«, sagte der Graf und deutete auf einen noch freien Sessel auf der anderen Seite des Tisches, seinem Sohn und Doyal gegenüber.
»Ich danke Ihnen, Mein Lord.«
Merlin löste die Scheide seines Katana vom Gürtel und legte es vor sich auf den Tisch. Dann setzte er sich und legte die gefalteten Hände auf die Tischplatte.
»Also gut, Seijin
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