Haus des Blutes
anfing, an Karens Geschichte von dem riesigen Monster zu glauben. Das inzwischen deutlich lautere Donnern der herannahenden Schritte erfüllte sie mit Angst und Entsetzen. Ihre Fantasie beschwor das ungemein lebendige Bild eines abscheulichen Wesens aus irgendeinem Horrorfilm herauf, das aus der Dunkelheit auftauchte, um sie alle bei lebendigem Leib aufzufressen.
Etwas trieb dort draußen sein Unwesen. Etwas sehr Ungeschicktes, dem Krach nach zu urteilen. Dann vernahm Dream ein weiteres Geräusch, das sie jedoch nicht genau einordnen konnte. Es mochte ein Stöhnen oder ein leises Knurren gewesen sein – die Art von Geräusch eben, die ein Monster von sich geben würde.
Alle drei erschraken, als ganz in der Nähe einige Zweige knackten.
Dream schnappte nach Luft.
Es war sogar noch näher, als sie gedacht hatte.
Renn weg!, flehte ihre innere Stimme sie an.
Ihre Füße brachten einen oder zwei Schritte zustande, bevor die Kreatur schließlich aus der Dunkelheit auftauchte und die kleine Lichtung betrat.
Shane.
Nur dass er kaum wiederzuerkennen war. Von oben bis unten mit Blut überströmt. Seine Kleidung bestand nur noch aus zerrissenen Fetzen. Er taumelte auf sie zu, öffnete den Mund und versuchte, etwas zu sagen, aber es gurgelte nur Blut heraus. Er quälte sich noch einen weiteren wackeligen Schritt ab, wankte hin und her und knallte dann zu Boden.
Karen sank neben ihm auf die Knie und weinte.
Dream hörte erneut einen Schrei.
Ihren eigenen.
Kapitel 7
Chad war der Straße bereits mehr als eine Viertelmeile gefolgt, als die Situation, der er den Rücken gekehrt hatte, ein echtes Krisenstadium erreichte. Er marschierte mit zügigen Schritten, die Reisetasche über die rechte Schulter geworfen. Dank täglichem Training in einem Fitnessstudio ganz in seiner Nähe befand er sich in ausgezeichneter Form – ein Spaziergang in die Stadt sollte daher keine allzu große Herausforderung für ihn darstellen.
Natürlich war er sich nicht sicher, wie weit diese theoretische Stadt entfernt lag, aber er zweifelte nicht daran, dass die nächste Oase der Zivilisation nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Gewiss würde er schon bald eine dieser Ansammlungen aus McDonald’s-Filialen und Holiday Inns erreichen, die entlang der wichtigsten Highways in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen verstreut lagen. Schon bald würde er um eine weitere Kurve der Straße biegen und die vertrauten goldenen Bögen erkennen, die ihm aus der Ferne entgegenleuchteten.
Er zweifelte auch nicht daran, dass er das Richtige tat, indem er seine ehemaligen Freunde zurückließ. Der Teufel sollte sie holen, aber Alicia hatte recht – dieser Bruch war seit Langem überfällig gewesen. Er war ihnen entwachsen. Die Aussicht auf eine Zukunft ohne die Mädchen war gleichzeitig aufregend und furchteinflößend. Er würde endlich eine eigene Identität entwickeln, die nicht fast ausschließlich auf weiblichen Ansichten gründete.
Trotzdem konnte er das Gefühl des bittersüßen Bedauerns nicht leugnen, das sich in seinem Herzen ausbreitete. Er nahm an, dass es von einer Art Trauer zeugte; von dem Verlust, den man spürte, wenn man sich von seiner Jugend verabschieden musste. Sie waren damals so gute Freunde gewesen. Auch wenn er zu Dream stets den engsten Draht gehabt hatte – er kannte auch Alicia seit der High School und Karen seit ihrem zweiten Jahr am College.
Ein Anflug von Zweifel verlangsamte seine Schritte ein wenig.
Tu das nicht!, ermahnte ihn eine strenge Stimme in seinem Kopf.
Dies war die Stimme der Unabhängigkeit, wie ihm bewusst wurde. Die Stimme, die er auch vorhin gehört hatte, als er aus dem Wald gestürmt war und Dreams Worte in seinem Kopf widerhallten. Er traf wichtige Entscheidungen in seinem Leben nicht gerne auf der Grundlage emotionaler Impulse, aber er fühlte, dass es an der Zeit für einen mutigen, ungewöhnlichen Schritt war. Er hatte sich daher in den nicht abgeschlossenen Honda hineingebeugt, den Kofferraum geöffnet, seine Tasche herausgeholt und war losmarschiert.
Diese ersten Schritte auf seinem Weg in ein neues Leben waren unheimlich berauschend gewesen. So sehr, dass er sich über diesen neuen Anflug von Zweifel fürchterlich ärgerte. Er wollte sich selbst nur allzu gerne als rechtschaffenen Menschen betrachten, aber sein Gewissen verriet ihn und erinnerte ihn an all seine beschämenden Stelldicheins mit Karen Hidecki. Die Schuld, die er all die Monate im Zaum gehalten hatte, drohte nun
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