Haus des Blutes
Jahren durchschaute Dream Alicia ziemlich gut. Sie nahm Dream ihre Geschichte zwar nicht hundertprozentig ab, aber sie war deswegen nicht allzu beunruhigt. Vielleicht war sie einfach nur zu müde, ihre Skepsis offen zu äußern. Was auch immer der Grund dafür war, sie hatte allem Anschein nach nicht die Absicht, Dream deswegen verbal in die Mangel zu nehmen.
Dream entspannte sich ein wenig.
Jetzt schien alles gut zu werden.
Sie würden schon bald eine Polizeistation erreichen und Shanes Tod dort melden, um sich anschließend in ein gemütliches Hotelzimmer zurückzuziehen und in Ruhe zu verschnaufen. Dort, endlich allein, würde sie die Tasche öffnen und sich ihrem Schicksal stellen.
Sie fuhr in die Nacht hinein.
Und versuchte, sich auszumalen, wie es sich anfühlen mochte, endlich frei zu sein.
Kapitel 10
Der Formwandler trat zwischen den Bäumen hervor und inspizierte die Zufahrtsstraße, die zum Haupteingang des Tunnels nach Unten führte. Es gab keinerlei Anzeichen für die Aktivitäten anderer Formwandler in unmittelbarer Umgebung, also lief er auf die Straße, schwang sich seine bewusstlose menschliche Last über die Schulter und rannte los.
Er erlebte eine Art Gefühlsecho aus einem anderen Leben. Aus seinem Leben vor der Verwandlung. Jener Zeit, bevor er in dieses Reich der seltsamen Kreaturen und dunklen Mächte gekommen war. Ein Land, in dem er ein vollkommen anderes Dasein fristete als früher. Hier streifte er durch die gespenstischen Spukwälder, jagte und ernährte sich nach uralter Tradition, indem er das Fleisch unglücklicher Wanderer verspeiste, die sich an diesen Ort verirrten. Es war ein ursprüngliches, sinnliches Dasein, auf wilde und seltsam wunderbare Weise erfüllend. Er liebte den Geschmack von rohem Fleisch, von frischem Blut, das aus zerfetzten Arterien in seinen Rachen gluckerte.
Ja!
Das grandiose Hochgefühl, sich einem Blutrausch hinzugeben, war ein Vergnügen, das sich mit keinem anderen vergleichen ließ. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte ihn, als ihm bewusst wurde, dass er gerade zum letzten Mal menschliches Fleisch genossen hatte. Er bedauerte zutiefst, dass sich seine Zeit in diesem nächtlichen Wunderland dem Ende entgegenneigte, aber diese Existenzangst wurde durch das Versprechen auf einen neuen, noch besseren Platz gemildert. Eine höhere Sphäre außerhalb dieses greifbaren Reiches. Ein Paradies. Das Wort drang aus einem lange Zeit schlummernden Gedächtnisspeicher zu ihm, jenem Reservoir des menschlichen Wissens, das er seit seiner Verwandlung so gut wie gar nicht mehr angezapft hatte.
Das Paradies.
Jener Ort, den Die Andere ihm versprochen hatte.
Sie war eines Nachts im Wald zu ihm gekommen, nackt und unirdisch schön, und ihre langen, rabenschwarzen Haare hatten sich über ihre milchweißen Brüste ergossen. Sie trat auf die Lichtung, auf der er sein jüngstes Mahl verspeist hatte: den Unterarm eines Mannes, dessen Eingeweide dampfend auf dem Waldboden vor ihm lagen. Er hatte das erwartete Brennen neu aufflammenden Hungers nicht verspürt, und ihm wurde schon bald bewusst, weshalb – die Frau, Die Andere, war nicht menschlich.
Nicht mehr.
Der Meister hatte sie verwandelt.
Ihre dunklen Augen machten ihm Angst. Er wollte seine Beute fallen lassen und einfach davonrennen, tief in die Wälder eintauchen und das Bild der fesselnden Erscheinung dieser Frau aus seinem Gedächtnis tilgen. Die meiste Zeit ließ er sich allein von seinem Instinkt leiten, von seinen uralten, ursprünglichen Trieben, aber die Frau strahlte eine Kraft aus, die all das auslöschte. Sie zerstörte jegliche Befähigung und jeden Wunsch, gegen sie anzukämpfen oder sich ihrem Willen zu widersetzen, restlos.
Sie war beinahe genauso mächtig wie der Meister.
Und er gehörte von jenem Moment an ganz ihr, als sie dank ihrer Macht in seinen Verstand eindrang und ihm in einer Sprache, die nur aus Bildern bestand, mitteilte, was sie von ihm verlangte. Ihn mit Visionen einer derart süßen Belohnung verführte, dass seine Angst vor dem Zorn des Meisters fast restlos verflog.
Sie nahm ihn auf dem weichen Waldboden.
Hatte ihn mit ihrem Sexzauber betört und genötigt.
Und ihm für eine Weile seine menschliche Gestalt zurückgegeben.
Trotzdem hatte er im Augenblick des Höhepunkts laut aufgeschrien und wie die wilde Bestie, in die er sich schon bald wieder verwandeln würde, immer wieder heftig in sie hineingestoßen. Das Gefühl, das er dabei empfunden hatte, war ungleich köstlicher gewesen
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