Haus des Blutes
diesem Moment waren solche Menschen unterwegs. Er konnte sie dort draußen spüren. Spürte, wie sie ziellos umherwanderten. Verlorene Seelen, die mit jedem Augenblick, der verstrich, noch verzweifelter und ängstlicher wurden. Schon bald würden sie die scheinbare Hilfe seines Hauses annehmen. Er konnte zwar ihre Gedanken nicht lesen, aber er vermochte gewisse Regungen zu deuten. Eine unter ihnen strahlte etwas ganz Besonderes aus, eine innere Energie, von der sie aller Wahrscheinlichkeit nach selbst nicht wusste, dass sie sie besaß. Ein Weibchen. Eine charismatische Person, die von vielen bewundert wurde. Aber er spürte auch eine abgrundtiefe Verletzlichkeit an ihr.
Er wollte mehr über sie erfahren.
Der Meister schloss seine Augen wieder, verfiel erneut in eine Art meditativen Zustand und bündelte die gesamte Kraft seines Geistes. Jene lebendige Masse aus Energie, die beinahe ein unabhängiger Organismus war, der in der Hülle seines Körpers existierte – in einer intimen Symbiose zweier einzigartiger Wesen. Sein Geist vibrierte förmlich vor Kraft, und er spürte die subtilen elektrischen Impulse, die in solchen Augenblicken stets durch seinen Körper strömten.
Sein Geist sendete Energieimpulse aus wie übersinnliche Ranken.
Ein Radar, das für gewöhnlich nicht wahrnehmbare Hirnwellen aufspürte.
Und hin und wieder auch entschlüsselte.
Dream, dachte er.
Nun kannte er ihren Namen, hatte ihn wie ein Glühwürmchen aus der Luft geschnappt. Mit jedem Moment spürte er mehr von ihr. Sie kam immer näher. Dream war ein moralischer Mensch. Die meisten sahen in ihr eine Quelle des Guten. Einen wahrhaft anständigen Menschen. Die Intensität der Wahrnehmungen zu ihrer Person war ungewöhnlich stark. Ein weiteres Anzeichen für ihre seltene Gabe, von der sie selbst nichts ahnte.
Der Meister riss die Augen auf.
Er ging an die Bar und schenkte sich einen Drink ein. Einen jahrelang im Fass gereiften Scotch auf Eis in einem leicht gefrorenen Glas. Die berauschende Wirkung des Alkohols trat bei ihm jedoch nur ansatzweise ein. Sein Körper verarbeitete berauschende Substanzen viel effizienter als der menschliche Körper. Trotzdem wirkte der Whiskey beruhigend auf ihn.
Er war überrascht, dass er diesen flüssigen Trost überhaupt benötigte.
Dream.
Er wiederholte den Namen mehrmals stumm, genoss ihn wie einen edlen Tropfen.
Er schenkte sich ein zweites Glas nach.
Etwas ging in seinem Reich vor sich. Etwas Ungewöhnliches und Beunruhigendes. Beunruhigend, weil bisher keiner seiner Versuche, dem Wesen der Sache auf den Grund zu gehen, von Erfolg gekrönt gewesen war. Seine Wahrnehmungskräfte schwanden seit einiger Zeit, waren ähnlich instabil wie der Funkempfang während einer Zugfahrt durch abgeschiedene Gegenden. Bei diesem Einblick in die Psyche der Frau handelte es sich mit Abstand um das deutlichste Signal, das er seit vielen Monaten empfangen hatte.
Selbst seine Götter, die Geister des Todes, schwiegen.
Nun rief er sie erneut an.
Flehte sie an, ihm den rechten Weg zu weisen.
Shivar!
Mindragin!
Nichts.
Nur dieselbe schmerzliche, himmlische Leere.
Er goss sich einen weiteren Drink ein.
Dream, dachte er noch einmal.
Diese neue Obsession schwelte in seiner Seele wie ein bösartiger Tumor.
Dream?
Was bist du?
Wie kann ich dich verderben?
Die Annahme des Meisters bezüglich Eddie Kings Situation erwies sich als vollkommen korrekt. Er war erneut ein Gefangener. Erneut ein Sklave. Er lag mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken und starrte auf dem weichen Bett des stummen Mädchens zu dem samtenen Himmel empor. Seine Arme waren an die Streben des Kopfteils gefesselt, die Lederriemen eines Ballknebels straff um sein Gesicht gespannt. Die Fußgelenke wurden an den Pfosten am Ende des Bettes fixiert. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich aus seiner Fesselung zu befreien, zogen sich die Riemen noch enger und unangenehmer zusammen; so fest, dass er schon Angst hatte, sie würden über kurz oder lang die Durchblutung seiner Extremitäten verhindern.
Er konzentrierte sich mittlerweile völlig auf dieses Gefühl des Unbehagens. Die Umstände, die ihn hergeführt hatten, waren – zumindest für den Moment – vollkommen irrelevant und wurden von der Panik überlagert, die seinen Verstand erfüllte und jedes Mal von Neuem wuchs, wenn sich die Knoten um seine Hand- und Fußgelenke noch ein wenig enger zusammenzogen. Und dann war da noch dieses sonderbare Utensil aus Plastik in seinem Mund. Er
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