Haus des Todes
eine Zeitung mit einer Schlagzeile über den Sensenmann. Allerdings sind die Zeitungen schon nicht mehr aktuell, bevor die Druckerschwärze überhaupt getrocknet ist. Ich drehe sie um, damit mich die Schlagzeile nicht länger anstarrt, und werfe einen Blick in den Sportteil mit dem Foto einer Frau im Bikini, die genauso dünn wie das Surfbrett ist, neben dem sie steht. Irgendjemand hat mit blauem Stift einen Schnurrbart und einen Penis dazugemalt und eine Sprechblase mit Buchstaben, die so undeutlich geschrieben sind, dass man sie nicht entziffern kann. Ich schätze, sie bezieht sich auf die Frau und nicht aufs Surfbrett.
Ich schiebe die Zeitung ans andere Ende des Tisches, zücke mein Handy und rufe im Pflegeheim meiner Frau an. Es dauert ein paar Minuten, bis die Empfangsdame Schwester Hamilton ans Telefon geholt hat.
»Ich weiß, was Sie denken, Theo«, sagt sie, bevor ich überhaupt Gelegenheit habe, es ihr zu erzählen. »Sie war nur fünf Minuten verschwunden, aber sie hat sich nicht verletzt.«
Offensichtlich weiß sie nicht, was ich denke. »Was? Bridget ist verschwunden?«
»Nein, nicht ist , sondern war …«, sagt sie und zieht das war einige Sekunden in die Länge. »Deswegen rufen Sie doch an, oder?«
»Nein«, sage ich. »Ich rufe wegen letzter Nacht an, als sie immer wieder ans Fenster gegangen ist.«
»Oh, verstehe. Also …«
»Was soll das heißen, sie war verschwunden?«
»Das war nichts, kein Grund zur Beunruhigung«, sagt sie und versucht, einen beiläufigen Tonfall anzuschlagen, doch so langsam bin ich wirklich beunruhigt. »Sie ist nur kurz ausgebüxt, das ist alles. Sie war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr.«
»Meine katatonische Frau ist ausgebüxt?«, frage ich, und die Bedienung, die mir eben den Kaffee gemacht hat, schaut zu mir herüber, während ihr das Lächeln im Gesicht gefriert. Ich senke den Blick und meine Stimme. »Wie konnte das passieren?«
»Sie ist nicht weit gekommen. Allerdings hat sie es bis nach draußen geschafft.«
Es fällt mir schwer, weiter mit gedämpfter Stimme zu sprechen. »Nach draußen? Wie zum Henker hat sie es nach draußen geschafft?«
»Bitte, Theo, beruhigen Sie sich.«
»Ich bin ruhig«, sage ich und starre auf den Penis des Surfbretts. Ich schiebe die Zeitung noch weiter fort. »Ich kapier nur nicht, wie sie es nach draußen schaffen konnte.«
»Das hat mit den Ereignissen von gestern Nacht zu tun«, sagt Schwester Hamilton jetzt in einem respekteinflößenden Tonfall. »Arme Victoria, es ist nicht leicht, mit ihrem Tod fertigzuwerden, Theo, glauben Sie mir. Sie sind so einen Anblick vielleicht gewohnt, aber wir hier nicht, das kann ich Ihnen versichern. Drei Mitarbeiter sind heute nicht zum Dienst erschienen, Theo, sie waren so kurz danach noch nicht wieder in der Lage dazu, und wahrscheinlich werden sie auch morgen und übermorgen nicht zur Arbeit kommen. Außerdem ist die Polizei immer noch da und befragt die Leute, darum kriegen wir heute nicht alles mit, was passiert, Theo, aber wir haben Bridget wieder bei uns, und sie ist unversehrt, das ist alles, was zählt.«
Ich schließe die Augen. Eigentlich müsste ich wütend sein, aber das bin ich nicht – Schwester Hamilton hat recht, außerdem ist sie nicht der Typ Frau, der bei einem Streit den Kürzeren zieht. Dass es Bridget gut geht, ist alles, was zählt. Wie kann ich wütend sein angesichts der Tatsache, dass es meine Frau irgendwie nach draußen geschafft hat?
»Was hat sie in der Zeit gemacht?«, frage ich.
»Nichts«, sagt sie jetzt in einem weniger abwehrenden Tonfall. »Sie stand im Garten und hat auf den Teich hinausgestarrt, sonst nichts. Wir haben sie wieder reingebracht, und jetzt ist sie auf ihrem Zimmer, und wir haben ein Auge auf sie.«
»Hat sie in den Teich gesehen oder durch ihn hindurch?«
»Verstehe, Theo. Nein, sie hat nicht hineingesehen – das Sonnenlicht wurde so stark reflektiert, dass sie unmöglich etwas erkennen konnte.«
»Ich komme vorbei«, sage ich.
»Sie sollten sich keine Hoffnungen machen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie weggelaufen ist.«
»Ich weiß«, sage ich und massiere mir die rechte Schläfe, die leicht pocht, »aber wie Sie gesagt haben, es ist das erste Mal, dass sie nach draußen gegangen ist. Und das hat sie nicht ohne Grund getan.«
»Nein, Theo, es ist das erste Mal, dass wir hier einen Mord hatten und personell unterbesetzt sind. Darum hat sie es nach draußen geschafft. Wären wir früher schon mal unterbesetzt
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