Haus Ohne Hüter
nehme ihn im Auto mit, denn ich habe ja immer in der Stadt zu tun. Es ist nicht Platz genug dort, um zwei Jungen ständig unterzubringen. Und seine Mutter wird ȇ s nicht wollen. Sie braucht ihn ja.«
»Auch Wilma müßte mit, wenn Heinrich mitgeht«, sagte Martin. Er sah sich
in der fremden Schule mit fremden Jungen, von denen er nur einige vom Fußballspielen her kannte. »Wieso müßte Wilma mit?«
»Leo schlägt sie, wenn niemand da ist, und sie weint, wenn sie allein mit ihm
ist.«
»Es geht nicht«, sagte Albert, »ich kann nicht drei Kinder zu meiner Mutter bringen. Du wirst doch nicht immer mit Heinrich zusammen sein können.« Albert schaltete und schwieg, er umkreiste die evangelische Kirche, und als er jetzt sprach, sprach er mit der Stimme eines Auskunftsbeamten. Er gab Weisheit ohne Pathos weiter wie eine kostenlose Auskunft, deren Wortlaut feststand und keinerlei persönliche Färbung in der Stimme erforderlich machte: »Du wirst dich doch von mir, von deiner Mutter, von uns allen irgendwann einmal trennen müssen, auch von Heinrich Ȭ und Bietenhahn ist ja nicht aus der Welt. Es ist besser für dich, wenn du fort bist.« »Fahren wir denn jetzt bei Heinrich vorbei?«
»Später«, sagte Albert.
»Wir holen deine Sachen, und ich muß erst deine Mutter anrufen, wir packen alles, was du für die nächsten Wochen brauchst, gleich ein. Komm«, sagte er heftig zu Bolda, »weine nicht.« Aber Bolda weinte, und Martin hatte Angst, Angst vor Boldas Tränen. Sie fuhren schweigend weiter: Es war nur Boldas Weinen zu hören.
19
Nella schloß die Augen, öffnete sie, schloß sie, öffnete sie wieder, aber das Bild blieb: Tennisspieler kamen die Allee herunter. Gruppen zu zweien, zu dreien, zu vieren. Weißgekleidete junge Helden, sie kamen wie von der Regie zitiert und mit der Weisung versehen, im Schatten der Kirche nicht das Geld aus dem Portemonnaie zu nehmen. Munter wandernde Stengel, die im grü Ȭ nen, dämmerigen Licht der Allee daherkamen. Spargelprozession, die den vorgeschriebenen Weg nahm. Um die Kirche herum, quer über die Straße zum Park hin verschwindend. War sie wahnsinnig, oder gab der Tennisklub eine Herren Ȭ Party? Fand ein Turnier statt Ȭ sie hörte es: das heftige Getrommel der grauen Bälle an Turniertagen. Rufe Ȭ das wilde Rot des Platzes, das Geklirr grüner Flaschen im Hintergrund Ȭ und die bunten Wimpel der unsichtbaren Schiffe, die von einer unsichtbaren Hand hinter der Kulisse gezogen wurden und mit den Wolken schwarzen Qualms am Horizont verschwanden. Sie versuchte, die Spargel zu zählen, aber es wurde ihr lästig, und sie gab es bei zwanzig auf, und es kamen mehr, immer mehr. Zeitlos, schlank, weiß kamen sie die Allee herunter. Lachen klang ihr ans Ohr, und es kamen immer mehr; muntere Treibhausspargel, die einander glichen; in Größe, in Weiße, in Schlankheit kongruent. Lächelnd kamen sie oben von Nadoltes Haus her Ȭ und es gab nicht die Möglichkeit zu denken, sie träume oder sie sei wahnsinnig. Nichts half ihr, dieses Bild zu zerstören. Alberts grauer Wagen kam nicht, und der Traum von Rai gelang nicht mehr, der Traum, der so oft gelungen war: ihn von der Straßenbahnstation kommen zu sehen, das milde Grau der Akazienbäume, heftige, grüne Streifen darin und moosfarbene Flecken an Stellen, wo der Regen sich in Ausbuchtungen sammelte, Streifen so schwarz wie frischer Teer Ȭ und das Graugrün der Blätter, und Rai kam von der Straßenbahn her. Müde kam er, verzweifelt, aber er kam.
Der Traum gelang nicht mehr. Spargel kamen, und die Spargel waren wirklich: zeitlose Prozession, die ihre Wirklichkeit bewies, indem sie endete. Die Allee blieb leer, eine Allee, auf der Rai nicht mehr kam, und es blieb, um sich festzuhalten, nur die Schlaufe aus Goldbrokat und die Zigarette, und es schien ihr, als hörte sie es, das Echo, das die Lüge entlarvte und Ȭ ührer Ȭ olk und
Ȭ aterland wie einen Fluch über sie warf: Nebenprodukt der Witwenfabrik, nicht einmal des Beischlafs mit anderen schuldig. Rauch sammelte sich zwischen Gardine und Fensterscheibe, sie hatte Hunger, ekelte sich aber, in die Küche zu gehen. Dort war noch nicht abgewaschen. Schmutzige Teller, Tassen standen herum, Kessel mit erhärteten Resten, halbgeleerte Töpfe, Tassen, in denen Zigarettenstummel in Kaffeeresten schwammen Ȭ alles wies auf eine flüchtig eingenommene Mahlzeit hin, und Albert kam nicht. Das Haus war so leer und still, und nicht einmal die Mutter war zu hören.
In Bietenhahn
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