Havelsymphonie (German Edition)
durcheinander. Außer ihm kam wohl niemand mit leeren Händen hierher.
Er sah sich weiter um in dem Raum, der ihn gefühlsmäßig eigentlich abstieß. Von der enorm hohen Decke fielen schwarze Wände, deren Farbe sich an den meisten Stellen schon ziemlich abgenutzt hatte, und trafen auf braune Dielen, die wiederum den Charme eines Scheunenbodens versprühten. Waren das die Bretter, die die Welt bedeuteten? Selbst die Heizkörper waren schwarz gestrichen, Birgit Walter hätte ihre helle Freude gehabt.
Ansonsten hatte er eine Perspektive, die ihm als Konzertbesucher nie begegnet war. Er sah die Musiker von hinten, in dicke Rollkragenpullover oder Strickjacken gehüllt, und plötzlich ging ihm auf, dass es sich um Menschen handelte, die ohne Frack und Abendkleid aussahen wie alle anderen auch. Nur einige Zöpfe verliehen ihren männlichen Trägern eine Aura der Extravaganz.
„Guten Tag, Herr Manzetti.“ Sebastian Hendel reichte ihm die Hand. „Man hat mir gesagt, dass Sie im Hause sind.“ Manzetti erwiderte den Gruß und kam kurz ins Grübeln. So schnell funktionierte hier die stille Post.
Bada ba bam. Die ersten Takte zogen Manzetti in eine andere Welt. Bada ba bam. Die Musiker folgten dem Taktstock des Dirigenten, jedenfalls nach Manzettis Geschmack. Der Dirigent jedoch schien das ganz anders zu sehen. Er war nicht zufrieden mit dem Auftakt, mit dem Motiv, bei dem auf die ersten beiden kurzen Orchesterschläge, die fast gewalttätig klangen, zwei nachstolpernde Halbtonschritte folgten, ganz so als würden die beiden Schläge an einem unauflösbaren Akkord hängen bleiben. Bada ba bam. Es hätte als musikalisches Motiv auch zu einer Gewalttat passen können, wobei die Gewalt aus dem Hinstürzen dreier Akkorde rührte, die wie das Fallen eines Beiles anmuteten.
„Bitte konzentrieren Sie sich“, bat der Dirigent mit erhobenem Stock. „Der Auftakt. Hören Sie genau hin – Bada ba bam. Wenn der Auftakt nicht stimmt … Also bitte noch einmal.“
Wieder Bada ba bam. „Sie haben ja enorm schnell reagiert“, wandte sich Manzetti mit einem Blick über die Schulter an Hendel.
„Wieso?“, fragte der lächelnd, ohne die Augen vom Dirigenten zu nehmen.
„Das ist doch der erste Akt aus La Bohème, oder?“
„Richtig“, lobte der Intendant. „Aber so schnell wären wir nicht einmal, wenn wir es wollten. Das Orchester probt für eine Operngala, die demnächst aufgeführt wird, und die Planung dafür begann schon vor gut zwei Jahren. Wir müssen zum Beispiel die Sänger engagieren, und das geht nicht erst zwei Wochen vorher.“
Manzetti hatte wirklich geglaubt, dass sie die Umstände des Mordes an Carolin Reinhard blitzschnell in ihr Programm einfließen lassen würden, um klingende Kasse zu machen. Aber er musste zugeben, dass er ein weiteres Mal die Komplexität eines Theaterbetriebes und vor allen Dingen die Mitarbeiter dort falsch eingeschätzt hatte.
„Stop, Stop, Stop“, rief der Dirigent vom Pult herunter, auf dem er, für Manzetti ungewohnt, auf einem Stuhl saß. „Was ist das?“ Sein Blick glitt über das Orchester, ohne dabei einen einzelnen oder eine Instrumentengruppe besonders zu fixieren. „Überirdisch ist das. Überirdisch und keine Baustelle.“ Der Dirigent stand auf und hob den Taktstock. „Also noch mal. Und nicht so schnell.“
Das Orchester setzte wieder an, spielte das bekannte Bada ba bam und wurde erneut unterbrochen. „Piano bitte, ein Takt vor 6/8. Das, was Sie gespielt haben, war mindestens forte, ich möchte es piano haben, die leisen Töne, lassen Sie sich bitte nicht mitreißen, es muss aufblühen“, forderte der Dirigent und hob wieder seinen Stock. Bada ba bam.
„Hätten Sie etwas Zeit für mich?“ Manzetti erhob sich von seinem Stuhl.
Der Intendant nickte und bat ihn in sein Büro. Dort brachte die Sekretärin ihnen Kaffee. Manzetti legte seinen Mantel über eine Stuhllehne, öffnete sein Sakko und nahm an dem langen Beratungstisch Platz, seine Tasse vor sich in die richtige Position schiebend.
*
Sonja hatte während der letzten halben Stunde sämtliche Begriffe in den Computer eingegeben, die ihr für den Fall relevant erschienen, und sie durch verschiedene Suchmaschinen laufen lassen. Mehr als ein paar belanglose Notizen waren dabei aber nicht herausgekommen und zu mehr hatte ihr die Ausdauer gefehlt.
Sie wollte lieber auf die Straße, wie es in der Sprache der Polizei hieß. Sie wollte raus und ermitteln. Außerdem konnte ihr Oliver viel besser mit dem
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