Havelsymphonie (German Edition)
zu dem Tod eines Ensemblemitgliedes gefunden zu haben, gehofft, nunmehr ganz sachlich ein paar Fragen stellen zu können und das Theater mit den entsprechenden Antworten wieder zu verlassen. Aber daraus wurde wohl nichts.
Manzetti schob Sonja seinen Kaffee hin und lehnte sich dann tief ausatmend zurück. „Haben Sie eine Ahnung, warum jemand Carolin getötet hat?“
Der Intendant hob hilflos die Hände. Das sollte wohl so viel bedeuten wie, nein, die habe ich nicht. Hendel hatte die Frage irgendwie befürchtet. Sie machte ihm Angst, weil er keine Antwort wusste. Unter den Theaterleuten wurde darüber in jeder freien Minute diskutiert, aber es blieb bei wilden Spekulationen, die aus der Feder eines billigen Drehbuchautors stammen konnten. „Ich habe keine Erklärung, wir alle haben keine Erklärung.“
„Sie sagten mir am Donnerstag, dass Sie nicht glauben, es könne etwas mit …“, Manzetti rang nach dem richtigen Wort, „etwas mit Stellenneid zu tun haben.“
„Davon bin ich noch immer überzeugt. Wie schon gesagt, sie machen Musik miteinander, nicht gegeneinander.“
„Und von außen? Kann nicht jemand außerhalb des Orchesters scharf auf die Stelle des ersten Trompeters gewesen sein?“, fragte Sonja, die sehr aufmerksam zugehört hatte.
Hendel schüttelte den Kopf. „Nein. Die Stelle war doch gar nicht vakant.“
„Ja eben“, sagte Manzetti. „Aber jetzt ist sie es, und darauf könnte doch der Täter hingearbeitet haben.“
„Ich verstehe.“ Hendel schob die Keksdose bis zur Mitte des Tisches, wo er sie endlich losließ. „Sie meinen, dass jemand Carolin getötet hat, um sie quasi zu beerben.“
„So in etwa“, bestätigte Sonja und zog die Keksdose mit einem fragenden Blick zu sich heran.
„Bedienen Sie sich!“
Sofort schoss Manzettis fleischige Hand in die Dose.
„Nein, ich glaube wirklich nicht, dass sie jemand beerben wollte“, sagte Hendel.
„Aber es ist auch nicht ganz ausgeschlossen“, wandte Sonja ein, wobei jetzt auch sie ihre Hand in die Dose tauchte. „Hat sich in der Vergangenheit jemand um diese Stelle beworben? Und wie viele Konkurrenten hat Carolin Reinhard eigentlich aus dem Rennen geworfen, als sie hier erste Trompeterin wurde?“
Hendel dachte kurz nach. „Ob sich jemand in der letzten Zeit beworben hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen wir den Dirigenten fragen. Aber Konkurrenten hatte Carolin damals nicht. Wir haben uns ja an sie gewandt. Es hat keine Ausschreibung gegeben, weil wir sie unbedingt wollten. Ihre Art, Musik zu machen, passte genau zu unserem Orchester.“
Diese Alternative war also erst einmal gestrichen. Manzetti war zwar kein Hellseher, aber auf Neid als Motiv hätte er sowieso nicht unbedingt ein Vermögen gewettet.
„Es gab in Hamburg ein ähnliches Verbrechen“, sagte Sonja plötzlich. „Auch eine junge Frau an ihrem dreißigsten Geburtstag, und auf die gleiche Art und Weise wie Carolin Reinhard aus dem Leben befördert, nur eben schon vor fünfzehn Jahren. Und sie trug eine fünfunddreißig um den Hals.“
Manzetti legte seine rechte Hand auf den Arm von Sonja, die sofort verstummte, während seine Gedanken gerade das Gespräch mit dem Intendanten überholten. Das konnte doch kein Zufall sein: Addierte man nämlich zu der fünfunddreißig um den Hals von Birgit Walter die vergangenen fünfzehn Jahre, so kam man im Ergebnis auf fünfzig, auf die Zahl, die Carolin Reinhard um den Hals trug. Was war also vor fünfzig Jahren passiert? „Gab es aus musikalischer Sicht irgendein Ereignis vor fünfzig Jahren, das mit La Bohème zu tun hat?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Was Zahlen angeht, und insbesondere Jahresdaten, bin ich ein richtiger Dilettant. Aber wir können uns gerne an meinen Computer setzen“, bot Hendel an und erhob sich schon mal.
Manzetti und Sonja folgten ihm zum Schreibtisch, wo der Intendant den Monitor in eine Position brachte, die es allen ersparte, sich den Hals zu verrenken.
Hendel ließ die Finger gekonnt über die Tastatur springen. Er gab La Bohème und 1957 ein und startete mit einem Mausklick die Suchmaschine. Die Ergebnisliste war imposant. 35.900 Einträge wurden angezeigt, wobei es sich bei den meisten um Aufnahmen aus dem Jahr 1957 handelte, etwa eine von der Callas für 28,45 € bei Amazon.
Hendel konkretisierte die Suche durch die Eingabe aller möglichen Begriffe, das brachte Manzetti jedoch nicht weiter. Es gab keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen oder auf Ereignisse, die nach
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