Havoc
zurück, wo sie gesessen hatte, und ließ sich wieder auf die Stufen sinken, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Seth.
»Was geht dich das an?«
»War ja nur eine Frage«, sagte Seth.
Sie seufzte. »Es ist zu kalt, um draußen zu schlafen«, sagte sie. »Deswegen lauf ich nachts lieber rum, das hält warm. Ich schlafe tagsüber.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wollte mich hier bloß mal umsehen.«
»Hier ist es aber gefährlich.«
»Danke, das hab ich mittlerweile auch mitgekriegt.« Sie verdrehte die Augen.
Seth fragte sich, wo das Mädchen herkam. Er hatte irgendwo mal gelesen, dass in England jährlich Tausende von Kindern und Jugendlichen als vermisst gemeldet wurden, die von zu Hause abgehauen waren und auf der Straße lebten. Tausende wie sie. Die Jugendlichen, die nach Malice verschleppt worden waren, waren dagegen nur ein Tropfen Wasser im Meer. Natürlich kam niemand auf die Idee, dass hinter ihrem Verschwinden etwas anderes stecken könnte.
»An deiner Stelle würde ich lieber woanders hingehen, wo du sicher bist«, riet Seth ihr.
»Mit der Wunde am Bein geh ich nirgendwohin«, erklärte sie störrisch. »Mach dir um mich mal keine Sorgen.«
Seth wusste nicht, was er tun sollte. Die Zeit lief ihm davon. Kady brauchte ihn. Andererseits konnte er das Mädchen an dieser gefährlichen Schnittstelle zwischen Malice und der realen Welt nicht einfach so allein lassen.
»Ist es sehr schlimm?«, fragte er und zeigte auf ihre bandagierte Wade.
Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung. Jedenfalls tut es höllisch weh.«
»Kann ich mal sehen?«
»Wenn du unbedingt darauf bestehst.«
Sie beobachtete ihn argwöhnisch, als er die Taschenlampe beiseitelegte, sich vor sie hinkniete und behutsam den Stofflappen vom Bein wickelte. Das Mädchen roch säuerlich nach altem Schweiß. Seth hatte zwar nichts dabei, um ihre Wunde zu versorgen, aber er konnte sie sich wenigstens ansehen, um zu entscheiden, ob der Biss so tief war, dass sie einen Arzt brauchte. Er musste wenigstens versuchen, sie dazu zu überreden, ins Krankenhaus zu gehen. Wahrscheinlich brauchte sie zumindest eine Tetanusspritze.
Als er den Streifen abgewickelt hatte, stutzte er. Die Haut darunter war völlig unversehrt.
Er hob den Kopf. »Abe r …?«
In diesem Moment stürzte sie sich auf ihn.
2
Der Angriff kam völlig überraschend. Wo eben noch das Gesicht des Mädchens gewesen war, sah Seth nur das Glitzern bösartiger, gelber Augen und scharfer Reißzähne, bevor er sich geistesgegenwärtig seitlich wegduckte, sodass sich die messerscharfen Fänge nicht wie beabsichtigt in seine Kehle bohrten, sondern in die Schulter.
Er schrie auf und versetzte dem Mädchen einen so heftigen Stoß, dass sie gegen die Waggontür knallte und zu Boden rutschte. Panisch stolperte er rückwärts und hielt sich die verletzte Schulter. Warmes Blut sickerte durch seine Jacke. Der Schmerz war so durchdringend, dass er ihm die Luft nahm. Das Mädchen richtete sich langsam au f – wobei Mädchen kaum mehr die zutreffende Bezeichnung für sie war, denn sie verwandelte sich vor Seths Augen in eine albtraumhafte Bestie. Es war, als würde ihr Inneres sich nach außen stülpen, als wäre ihre Haut nur eine Hülle, die aufplatzte, um ihre wahre Gestalt zu offenbaren. Die blonden Haare fielen in dicken Büscheln zu Boden, Fetzen ihrer Kopfhaut lösten sich und enthüllten darunterliegendes runzeliges, feucht glänzendes graues Gewebe. Ihre Nägel wuchsen rasend schnell und verwandelten sich in lange gelbliche, verhornte Klauen. Und ihre Gesichtszüge verzerrten sich zu einer grauenerregenden Fratze.
»Du bist in mein Reich eingedrungen!«, stieß das zombieartige Wesen mit gurgelnder Stimme hervor, die klang wie von jemandem, der gerade in einem Schlammloch ertrinkt. Seth fuhr herum und rannte los, doch das Monster überholte ihn und schnitt ihm den Weg ab, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als in die andere Richtung zu fliehe n – direkt auf die Tunnel zu. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass das Biest ihm dicht auf den Fersen war, allerdings lief es gebückt und humpelte. Anscheinend war das eine Bein tatsächlich lahm. Im Laufen verwandelte es sich unablässig weiter und ließ eine Spur aus Hautfetzen und Haarbüscheln hinter sich.
Die Bisswunde in Seths Schulter pochte und brannte wie Feuer. Er hätte diesem Mädchen niemals helfen dürfen, hätte sich der Gefahren, die an diesem Ort
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