Heidelberger Lügen
Zeit. Aber diese Erkenntnis beruhigte meine Nerven kein bisschen.
Am Vormittag hatte ein Oberstudienrat in Schriesheim seinen Mercedes Kombi als gestohlen gemeldet, worauf ein Stockwerk tiefer vorübergehend Hektik ausbrach. Aber schon eine halbe Stunde später hatte der Mann kleinlaut angerufen, um zu beichten, sein erwachsener Sohn habe den Wagen ohne sein Wissen ausgeliehen.
Bei der Suche nach McFerrins Mörder kamen wir ebenfalls nicht voran. Zehn Mal hatte ich im Lauf des Vormittags Ilse Tschudis Nummer in Zürich gewählt, doch vergebens. Vermutlich weilte man in irgendeinem Chalet hoch über dem Zürichsee und langweilte sich vornehm. Oder es war alles ganz anders. Wenn Meyers Recht hatte, wenn die Frau in McFerrins Mercedes Ilsebilse Lehrmann war, dann … Ja, was dann? Mein Kopf war in Streik getreten. Er wollte einfach nicht mehr denken.
Ich trat ans Fenster und öffnete es. Die morgendliche Sonne hatte sich längst wieder hinter dichten Wolken versteckt. Jetzt war es kalt und grau wie seit Tagen schon. Unten liefen zwei trotz der Kälte bauchfreie Teenager in Richtung Römerkreis. Vermutlich, um dort eine Straßenbahn zu besteigen, Freunde zu treffen, irgendwo in eine Bar, ein Café, später vielleicht ins Kino zu gehen. Jeder vernünftige Mensch saß jetzt zu Hause im Warmen oder tat etwas, was ihm Spaß machte. Wieder einmal fragte ich mich, warum ich nichts Anständiges gelernt hatte. Warum ich ausgerechnet zur Polizei hatte geraten müssen. Ich sehnte mich nach einem geordneten Achtstundentag. Nach regelmäßigen Wochenenden. Nach einem Leben ohne diesen Druck, der zurzeit unaufhörlich auf mir und meinen Leuten lastete.
Aber es half ja nichts. Auch wenn mein Gehirn partout nicht wollte, ich musste nachdenken. Irgendwo musste die Erklärung verborgen sein. Vielleicht hatte ich sie längst gesehen und nicht erkannt. Ich ließ mir die eisige Luft ins Gesicht wehen. Das half ein bisschen. McFerrin. McFerrin musste der Schlüssel sein. Er war die Drehscheibe in diesem undurchsichtigen Schlamassel. Er hatte den geheimnisvollen Unbekannten gekannt. Irgendwo musste er den Namen notiert haben, eine Adresse, eine Telefonnummer. McFerrin war als ordentlicher Zeitgenosse bekannt. Hatte sein Mörder deshalb den Laptop und das Handy verschwinden lassen?
Alles andere hatten wir mehrfach durchsucht, all seine Papiere durchgesehen, den Computer an seinem Arbeitsplatz durchstöbert und nichts, nichts, nichts gefunden. Jede Nummer, die er irgendwo aufgeschrieben hatte, war längst ihrem Inhaber zugeordnet. Jeder Kontakt überprüft, alle Dateien geöffnet und gesichtet. Wenn wir sein Handy hätten – wäre der Fall durch das Drücken einiger Tasten vielleicht gelöst. Aber das lag vermutlich immer noch in seinem verfluchten Mercedes, den wir nicht finden konnten.
Mir kam ein Gedanke. Ein Gedanke, der so nahe lag, dass keiner von uns bisher darauf gekommen war. Eilig schloss ich das Fenster, wählte Balkes Nummer und bat ihn zu mir, und zwar im Laufschritt. Dreizehn Sekunden später stand er vor mir.
»Das Handy orten? Logo. Im Prinzip schon. Aber der Akku wird natürlich längst leer sein.«
»Das ist mir klar. Aber während der Fahrt war es vielleicht eingeschaltet, und da wird der Akku noch nicht leer gewesen sein …«
»Wow!« Plötzlich klang seine Stimme heiser. Seine Augen wurden klein. »Das wär ja ein Ding!«
»Wie lange kann so was dauern?«
»Keine Ahnung. Wir müssten dann ja immer noch das Auto finden …«
»Wenn wir wissen, wo das Handy zuletzt war, dann wissen wir auch, wo wir den Mercedes suchen müssen.«
»Stimmt. Die Ortung funktioniert auf ein paar hundert Meter genau.« Balke sprang auf und lief davon. »Das wäre ja wirklich ein Ding«, war das Letzte, was ich von ihm hörte, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Ich merkte, dass ich Hunger hatte. Die Kantine bot heute nur belegte Brötchen an. Kurz entschlossen ging ich ins Merlin an der Ecke und bestellte mir einen Salat mit Putenbruststreifen. Das war gut gegen schlechtes Gewissen. Gegen den Frust gönnte ich mir ein Achtel Riesling dazu.
Schon kurz vor zwei platzte Balke mit rotem Kopf in mein Büro. »Eine halbe Stunde noch, länger brauchen sie nicht.«
Ich bat ihn, Platz zu nehmen. »Sie sind heute so gut gelaunt, Herr Balke. Das war in den letzten Tagen nicht immer so.«
Er lachte übermütig. »Na ja. Schon.«
»Und dabei sind Sie erst gestern Abend noch um ein Haar von Vangelis überfahren
Weitere Kostenlose Bücher