Heidenmauer
… wir Menschen, und sogar Gommi, sind einfach immer noch unersetzbar.«
»Hickmeiser, das ist also der richtige Name?«, fragte Schielin.
»Ja. Und es ist seltsam, kaum das ich den Namen gehört habe, sehe ich ihn auch schon wieder vor mir stehen. Erinnerung ist schon etwas Verrücktes, ich meine, wie sie funktioniert, oder eben nicht funktioniert.«
*
Hedwig Kohler war aufgestanden, als noch Sterne am Himmel zu sehen waren, und hatte Kaffee gekocht. Ihre Bewegungen waren nicht die eines müden Menschen, eher die eines Menschen, der Dinge mit einer mechanischen Sicherheit verrichtet, ohne bei dem zu sein, was er tat. Dann hatte sie mit dem, was an lichtem Dunkel durch das Fenster drang, in der Küche gesessen. Die Dahlien draußen vor dem Fenster hingen im leblosen Grau einer beginnenden Dämmerung. Um das Alleinsein nicht zu einem übermächtigen Gefühl werden zu lassen, hatte sie das Radio eingeschalten. Die Moderatoren verzichteten zu dieser Zeit noch auf billige Witze, unehrliches Lachen und auf Anrufe bei glücklich kreischenden Menschen. Dann saß sie still da, nippte von Zeit zu Zeit an der Tasse, wobei es mehr der Geruch war, weshalb sie Kaffee gemacht hatte. Die Kinder schliefen noch.
Später, als sie schon auf dem Weg zur Schule waren, fuhr sie los. In der Giebelbachstraße parkte sie und ging zum Ufer. Sie ließ ihren Blick über das sanft schwankende Wasser gleiten und musste kurz innehalten. Sie taumelte, und für einen Augenblick schien es ihr, als knicke das rechte Bein weg. Für einen fremden Beobachter hätte es ausgesehen, als wäre sie betrunken.
Sie fing sich und ging mit festen Schritten weiter, atmete ruhig und gleichmäßig. Sorgen waren ihrem bisherigen Leben nicht fremd gewesen. Doch das, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte, vergrößerte die Dimension ihrer Gefühlswelten. Diese großen Gefühle, von denen in billigen Romanen und Sonntagabendfilmen erzählt wird, diese großen Gefühle hatte sie selbst erleben dürfen, und sie bereute nichts, keine Sekunde, denn sie war nun um viele Erfahrungen reicher und weiter als andere. Sie hatte eine neue Stufe des Lebens erklommen. Ihre Entscheidung hatte sie getroffen.
Sie kam eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin auf der Dienststelle an. Robert Funk hatte sie ins Vernehmungszimmer gebracht, wo sie gelassen auf ihrem Stuhl saß und wartete, bis Lydia Naber und Schielin den Raum betraten. Schielin hatte etwas anderes erwartet; dass sie sich zum Beispiel zu ihnen umdrehen würde, denn sie saß mit dem Rücken zur Tür, oder dass ihr Nervosität anzumerken und anzusehen wäre. Stattdessen saß sie aufrecht da, hielt die Hände locker verschränkt im Schoß und sah ohne eine Regung die bleiche, schmucklose Wand an. Sie blieb sitzen, als sie sich begrüßten, und ließ auch kriecherische Gesten sein, die viele machten, in der Hoffnung, man würde rücksichtsvoller mit ihnen umgehen. Es war die Hoffnung derjenigen, die die Freundlichkeit der Fernsehkommissare auch in der Realität erwarteten.
Schielin und Lydia Naber nahmen umständlich Platz – immer noch keinerlei Aufregung bei ihrem Gegenüber.
Lydia Naber holte gleich zu Beginn das Kuvert mit den Fotografien aus ihrer Arbeitstasche und schob es ohne Kommentar über den Tisch. Hedwig Kohler sah mit einem Schein von Belustigung und Verwunderung auf das Kuvert, nahm es und zog langsam die Fotos heraus. Als sie erkannte, worum es sich handelte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Schielin war irritiert. Er hatte eine andere Reaktion erwartet.
Hedwig Kohler hielt die Fotografien hoch und meinte lächelnd: »Ach, deswegen bin ich hierher geladen worden?«
Lydia Naber lächelte lauernd und sagte keinen Ton. Auch Schielin wartete ab.
»Und, haben die Bilder Sie schockiert, entsetzt, empört?«, fragte Hedwig Kohler, während sie die Fotos in großer Ruhe und mit Vorsicht wieder im Kuvert verstaute. Sie warf den beiden einen offenen Blick zu.
»Sollen die Fotos denn schockieren oder entsetzen?«, fragte Schielin.
»Natürlich nicht. Ich meine nur, weil Sie das hier so streng handhaben.«
Lydia Naber sagte: »Streng wäre anders, Frau Kohler, und diese Fotos da schockieren uns weder, noch sind wir entsetzt.
Es geht eher darum, was diese Aufnahmen deutlich machen: Sie hatten ein Verhältnis mit Herrn Bamm. Sie werden verstehen, dass diese Information für uns unter den gegebenen Umständen schon eine große Bedeutung hat. Und noch eines – wegen dieser Fotos
Weitere Kostenlose Bücher