Heike Eva Schmidt
so hoch wie die des Männerklosters, trotzdem blieb ich ratlos stehen. Wie sollte ich Dorothea hier finden? Ich trug die Kleidung eines Jungen, daher würden die Nonnen mich garantiert auch für einen halten. Den Umweg über die Pforte konnte ich mir also sparen. Genauso unwahrscheinlich war es aber, dass das Schicksal zweimal am selben Tag gnädig war und ich Dorothea zufällig im Klostergarten beim Beten treffen würde, so wie vorhin ihren Bruder. Dennoch wollte ich einen Blick über die Mauer werfen. Also hängte ich mich an die obere Kante und versuchte, meine Füße in die Ritzen zu zwängen, um mich hochzudrücken. Flüchtig sah ich einen hellen Kiesweg, der vom Klostergebäude zur Kapelle führte. Ehe ich mich weiter umsehen konnte, fing die Glocke unvermittelt an zu läuten. Der helle, metallene Ton dröhnte in meinen Ohren. Im ersten Moment dachte ich, es wäre eine Art klösterliche Alarmanlage. Vor Schreck hätte ich beinahe losgelassen und wäre um ein Haar rücklings ins Gestrüpp gestürzt. Krampfhaft klammerte ich mich an der Mauer fest, so dass nur noch meine Nasenspitze über die Kante lugte. Da sah ich die massive Holztür des Klosters aufgehen. Eine Schar schwarzgekleideter Nonnen trat heraus, die Gesichter von den Schleiern fast verborgen. Langsam und würdevoll schritten sie in einer Reihe auf die Kapelle zu, deren helles Glockenläuten die Schwestern offenbar zum Abendgebet rief. Als Letzte trat eine schmale Gestalt aus dem Tor, die im Gegensatz zu den anderen Nonnen einen weißen Novizinnenschleier trug und den Kopf tief gesenkt hielt. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass dies Dorothea war. Die schweigende Prozession bewegte sich auf die Kapelle zu, und eine Schwester nach der anderen verschwand im Inneren. Die weißverschleierte Frau hatte den Abstand zu den anderen immer größer werden lassen. Statt nun ebenfalls hineinzugehen, machte sie kehrt, sobald die letzte Nonne durch die Tür geschlüpft war, und entfernte sich eilig in die entgegengesetzte Richtung. Nun war ich sicher: Es musste sich um Dorothea handeln. Der Drang, sich ab und zu vor den klösterlichen Pflichten zu drücken, scheint in der Familie zu liegen, dachte ich und musste grinsen. Dies war meine Chance. Das Glück war mir zum zweiten Mal an diesem Tage hold. Schleunigst machte ich mich daran, mich über die Klostermauer zu wuchten. Doch so gerne ich auch joggen ging, die Muskeln, die man für einen Klimmzug oder einen Liegestütz brauchte, waren bei mir nicht mal ansatzweise vorhanden. Meine Bemühungen, die Mauer zu überwinden, ähnelten wahrscheinlich eher den Versuchen eines Pottwals, sich vom Deck eines Schiffs zurück ins Meer zu wälzen. Ächzend und zappelnd hing ich an den rauen Steinen, ehe es mir schließlich gelang, mich hochzuziehen und über die obere Mauerkante zu rollen. Dort verlor ich prompt das Gleichgewicht und plumpste wie ein geprellter Frosch auf den Boden – immerhin auf die Seite des Klosters. Mit schmerzenden Knien humpelte ich in die Richtung, in die Dorothea vorhin so leichtfüßig verschwunden war.
Während es dämmerte und die klaren Farben des Frühsommertages langsam am Himmel schmolzen, pirschte ich mich weiter voran und hoffte, die Nonne in Weiß zu finden. Und gnade mir Gott, wenn es nicht Dorothea wäre!
Der Weg beschrieb eine Kurve und endete vor einer Thujahecke. Schon wieder. Allerdings begrenzte sie in diesem Fall tatsächlich einen Friedhof. Das vermutete ich jedenfalls, denn außer mehreren schlichten, in den Boden gerammten Holzkreuzen hatte dieser Ort nichts von den Friedhöfen, die ich kannte. Weder gab es Grabsteine, noch schmückten Blumen die letzte Ruhestätte der Verstorbenen – höchstwahrscheinlich ehemalige Bewohnerinnen des Klosters. Nur drei riesige Blutbuchen standen wie stumme Wächter dicht zusammen und breiteten ihre dunkelrot beblätterten Zweige aus, als wollten sie die Toten segnen. Ich schauderte, so trostlos wirkte der Knochenacker in der Dämmerung, die wie blaugrauer Rauch aus einer verglimmenden Zigarette heranwehte.
Plötzlich hörte ich hinter der Hecke die leise Stimme einer Frau. Gebückt schlich ich näher, bis sich die dichtgrüne Hecke zu einem Bogen lichtete, der den Eingang zum Friedhof markierte. Halb hinter dem Stamm einer Blutbuche verborgen, stand eine schmale Gestalt. In diesem Moment kam ein leichter Wind auf, und ich sah kupfergoldenes, langes Haar wehen. Dorothea. Offenbar hatte sie den Schleier abgenommen
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