Heiliger Zorn
nur fünfzig Meter sehen, dann klarte es auf, und gleich darauf war wieder alles hinter einer Wand aus Schnee verborgen. Es war ein Wetter, bei dem man nicht vor die Tür ging.
Am Rand des Docks in den Schatten eines ausgemusterten Frachtcontainers geduckt, fragte ich mich einen Moment lang, wie der andere Kovacs draußen in der Ungeräumten Zone zurechtkam. Genau wie ich hatte er die für Newpester typische Abneigung gegen Kälte, aber genau wie ich würde er…
Das weißt du nicht, du weißt nicht, dass er wirklich…
Ja, genau.
Hör mal, woher soll die Yakuza bitte schön eine Persönlichkeitskopie von einem Ex-Envoy haben? Und warum sollte sie das verdammte Risiko eingehen? Unter der ganzen idiotischen Politur von wegen Alte-Erde-Abstammung sind das doch ganz gewöhnliche Scheißkriminelle. Auf gar keinen Fall können sie…
Ja, genau.
Das war die juckende Stelle, mit der wir alle leben mussten, der Preis des modernen Zeitalters. Was wäre, wenn? Was wäre, wenn sie dich an irgendeinem beliebigen Punkt deines Lebens kopiert haben? Was, wenn du irgendwo im Bauch einer Maschine auf Vorrat liegst und wer weiß was für eine virtuelle Parallelexistenz führst, oder einfach schläfst, während du darauf wartest, auf die wirkliche Welt losgelassen zu werden?
Oder, wenn du bereits losgelassen wurdest, irgendwo da draußen. Lebendig.
Man sah so etwas in Experia-Filmen, man hörte die urbanen Legenden über Freunde von Freunden, die sich durch irgendeinen verrückten technischen Fehler im virtuellen Raum oder, was seltener war, in der Realität selbst begegneten. Oder die Verschwörungsgruselgeschichten im Lazlo-Stil über militärisch autorisierte multiple Sleevings. Man hörte all das, und man genoss den existenziellen Schauder, der einem dabei über den Rücken lief. Ganz selten hörte man eine Geschichte, die man vielleicht sogar glauben konnte.
Ich hatte einmal jemanden getroffen und notgedrungen getötet, der doppelt gesleevt war.
Ich hatte mich einmal selbst getroffen, und die Sache war nicht schön ausgegangen.
Ich hatte es nicht eilig, diese Erfahrung zu wiederholen.
Und ich hatte mehr als genug andere Probleme.
Fünfzig Meter weiter am Dock ragte die Aufgang des Daikoku undeutlich im Schneegestöber auf. Sie war ein größeres Schiff als die Gewehre für Guevara, nach dem Äußeren zu urteilen ein altes Handelsschiff, das man aus der Abstellkammer geholt und als DeCom-Transporter umgerüstet hatte. Eine Aura altertümlichen Glanzes umgab sie. Aus den Bullaugen schimmerte es warm und einladend, und an den Deckaufbauten leuchteten kühlere weiße und rote Lichtkonstellationen. Vor nicht allzu langer Zeit war ein dünnes unregelmäßiges Rinnsal von Gestalten die Gangway hinaufgetröpfelt, als die abreisenden DeComs an Bord gegangen waren. Lichter hatten an der Dockrampe geleuchtet. Jetzt schlossen sich die Luken, und der Hoverlader lag einsam in der klirrenden Nachtkälte von New Hok.
Gestalten im dichten weißen Gestöber zu meiner Rechten. Ich berührte den Knauf des Tebbit-Messers und schaltete die Sichtverstärkung ein.
Es war Lazlo, der mit dem federnden Schritt des Blinzelfischs und einem wilden Grinsen auf dem schneeverklebten Gesicht voranging. Oishii und Sylvie folgten ihm. Auf Sylvies Gesicht war eine dicke Schicht chemischer Funktionalität aufgetragen, die Haltung des anderen Kommandokopfs brachte bewusstere Selbstkontrolle zum Ausdruck. Sie überquerten das freie Feld am Kai und glitten in den Schatten des Containers. Lazlo rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und schüttelte sich schmelzenden Schnee von den gespreizten Fingern. Er hatte sich den verletzten Arm mit einer Kampf-Servoschiene gerichtet und schien keine Schmerzen zu verspüren. Alkoholgeruch schlug mir aus seinem Atem entgegen.
»Alles in Ordnung?«
Er nickte. »Alle, die es interessiert, und ein paar, denen es wahrscheinlich egal war, wissen jetzt, dass Kurumaya uns gesperrt hat. Jad ist immer noch da drin und teilt allen, die noch zuhören, lautstark mit, wie scheißsauer sie ist.«
»Oishii? Bist du bereit?«
Der Kommandokopf blickte mich ernst an. »Wenn du es bist. Wie gesagt, ihr habt höchstens fünf Minuten. Mehr ist nicht drin, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Fünf Minuten sind in Ordnung«, sagte Lazlo ungeduldig.
Alle blickten zu Sylvie. Unter unserer kritischen Begutachtung brachte sie ein schwaches Lächeln zustande.
»In Ordnung«, wiederholte sie. »Sensoren an. Legen wir los.«
Oishiis Gesicht
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