Heiliges Feuer
zog einen langen, schmutzigen Mantel an und setzte einen Schlapphut auf. Klaudia ließ sich nicht blicken. »Ich bin mit einer Freundin hier ins Tete gekommen«, sagte Maya zu Emil. »Wir müssen später wieder herkommen. Bloß eine kleine Runde um den Block, okay?«
Emil nickte geistesabwesend. Sie verließen das Tete. Emil steckte seine langen, knochigen Hände in die Manteltaschen. Der Himmel war klar und wolkenlos, und es wurde immer kälter. Emil ging die Opatovicka entlang.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Emil.
»Nein.«
Emil ging schweigend weiter, den Blick aufs Pflaster gesenkt. Sie kamen an Straßen mit unaussprechlichen Namen vorbei: Kremencova, Vjircharich, Ostrovni.
»Sollten wir nicht allmählich wieder umkehren?«, sagte Maya.
»Ich befinde mich in einer Krise«, erklärte Emil mit matter Stimme.
»Worum geht es?«
»Das sollte ich dir besser nicht sagen. Das ist eine komplizierte Geschichte.«
Emil hatte einen tschechisch-britischen Akzent. Maya kam es unglaublich vor, dass sie in einer so klaren Nacht durch eine so schöne Stadt spazierte und dabei einen so anrührend exotischen Akzent ihrer Muttersprache vernahm. »Das macht mir nichts aus. Jeder hat Probleme.«
»Ich bin fünfundvierzig.«
»Wieso ist das eine Krise?«
»Es liegt nicht an meinem Alter«, sagte Emil, »sondern an den Schritten, die ich unternommen habe, um anderen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ich war Töpfer, verstehst du. Ich war fünfundzwanzig Jahre lang Töpfer.«
»Ja, und?«
»Ich war ein schlechter Töpfer. Hab das Rad getreten und im
Dreck gewühlt. Technisch versiert, aber ohne das heilige Feuer. Ich konnte mich dem Handwerk nicht vollständig hingeben, und je besser ich in technischer Hinsicht wurde, desto weniger Inspiration war im Spiel. Ich habe unter meiner Unzulänglichkeit gelitten.«
»Das klingt sehr ernst.«
»Es ist in Ordnung, ein glücklicher Amateur zu sein. Und es ist in Ordnung, wirklich begabt zu sein. Aber eine Kunst, die man schätzt, mittelmäßig auszuüben - das ist ein Albtraum.«
»Ich hätte den Unterschied nicht bemerkt«, sagte Maya.
Diese Bemerkung schien Emil endgültig zu zerschmettern. Er zog sich den Schlapphut tief in die Stirn und stapfte weiter.
»Emil«, sagte Maya schließlich, »würde es dir helfen, tschechisch zu reden? Ich habe zufällig einen Tschechischübersetzer dabei.«
»Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber mein Leben war unerträglich«, sagte Emil. »Ich kam zu dem Schluss, dass ich zu weit gegangen war. Ich musste meine Fehler wiedergutmachen und einen Neuanfang wagen. Daher redete ich mit ein paar Freunden. Mit Drogenleuten. Die wirklich hart drauf sind. Sie gaben mir ein starkes Breitbandamnetikum.«
»Du meine Güte.«
»Ich habe es injiziert. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich nicht einmal mehr sprechen. Ich wusste nicht, wer oder was ich war und wo ich mich befand. Ich wusste nicht mehr, was eine Töpferscheibe ist. Ich konnte bloß erkennen, dass ich mich in einem Atelier mit einer Töpferscheibe und einem feuchten Dreckklumpen befand. Scherben lagen herum. All die wertlosen, hässlichen Sachen hatte ich am Vorabend nämlich zerbrochen.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen den Schädel. »Bevor ich mir den Kopf ruiniert habe.«
»Und dann?«
»Ich legte den Dreckklumpen auf die Scheibe, versetzte sie in Drehung und machte mich ans Werk. Es war ein Wunder. Ich konnte töpfern, ohne mir Gedanken darüber zu machen, es floss alles aus meinen Händen. Ton war alles, was ich hatte - alles, was ich war. Ton war alles, was von mir übrig geblieben war. Ich war ein Tier, das töpferte.«
Emil lachte. »Ich töpferte ein Jahr lang. Die Sachen waren wirklich gut. Das sagten alle. Ich verkaufte sie alle. An große Sammler. Für viel Geld. Ich hatte es endlich drauf. Und ich war gut.«
»Das ist eine erstaunliche Geschichte. Wie ging es weiter?«
»Ach, ich kassierte das Geld und lernte wieder Lesen und Schreiben. Und ich nahm Englischunterricht. Bis dahin hatte ich nie richtig Englisch gelernt, aber in meinem damaligen Zustand fiel mir das Lernen leicht. Nach und nach stellten sich auch wieder einige Erinnerungen ein. Der Großteil meiner Persönlichkeit aber ist unwiederbringlich verloren. Kein großer Verlust. Ich war niemals glücklich.«
Maya dachte darüber nach. Sie war froh, dass sie nach Prag gekommen war. Hier hatte sie endlich einen wahren Wesensverwandten gefunden.
»Lass uns jetzt
Weitere Kostenlose Bücher