Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
dich, aber sie wissen doch, wer du bist. Dein Ansehen ist nicht so leicht zu ruinieren. Ich möchte wissen, warum Rossana das durchgelassen hat. Sie muß das in Ordnung bringen. Ich rufe sie gleich an.«
»Ruf sie später an«, bat Proteo. »Ich muß ihr erst selbst einmal die Meinung sagen.«
Er suchte die Nummer des »Piccolo« heraus und ließ sich mit Rossana Di Matteo verbinden. Marietta hörte ihn durch die geschlossene Tür. Er schrie zwar nicht, war aber völlig außer sich.
Rossana entschuldigte sich damit, daß sie gestern einen freien Tag genommen habe und nach Istrien gefahren sei, um sich am Strand zu erholen. Der Vorfall war ihr äußerst peinlich, und sie versprach, alles daranzusetzen, ihm aus dieser Sache herauszuhelfen.
»Was sind das für Freunde, die, wenn es darauf ankommt, nicht eingreifen?« rief er empört ins Telefon.
»Es tut mir wirklich leid, Proteo. Ich sage es noch mal: Es tut mir leid!«
»Ich werde durch dieses Arschloch zum Gespött des ganzen Landes, Rossana! Gut, daß das Schwein einen Vater hat, der ihn beschützt«, sagte Proteo. »Ich könnte ihn umbringen.« Damit warf er den Hörer auf die Gabel und rief Marietta herein.
»Ich möchte, daß du unauffällig den Dienstplan Fossas beschaffst! Und kein Wort zu irgend jemand. Das ist eine Anweisung. Ich will jetzt von niemand gestört werden und vor allem kein falsches Mitleid oder Solidaritätsbekundungen!«
Via dei Porta
Tatjana Drakic hatte die Mädchen schon um sieben Uhr wecken lassen. Sie selbst war lange nicht mehr so früh aufgestanden. Ihr Bruder Viktor kam um neun, bis dahin mußten alle eingekleidet, frisiert und geschminkt sein. Tatjana Drakic sprach eindringlich mit jeder einzelnen von ihnen, ließ sie die Fragebogen ausfüllen, Namen und Vornamen, die der Eltern, der Geschwister, den Geburtsort, das Geburtsdatum, wo sie wohnten, welche Schulen sie abgeschlossen oder welchen Beruf sie erlernt hatten. Als der erste Durchgang geschafft war, rief sie wiederum jede einzeln herein und fragte ihre Angaben alle noch einmal ab. Anhand der Fragebogen konnte sie leicht feststellen, wenn eine gelogen hatte. War das der Fall, schrie Viktor sie an und drohte ihnen. Schlagen durfte er sie jetzt nicht, Gesicht und Körper hatten makellos zu sein für die anschließenden Fotografien und für die nächsten Tage. Die Mädchen waren genug geschlagen worden in den letzten Wochen. Sie zuckten schon zusammen, wenn er nur die Stimme hob. Aber das Versprechen einer gültigen Aufenthaltsbewilligung hielt sie bei der Stange.
Tatjana Drakic registrierte jede Nuance im Verhalten der Mädchen. Sie verfolgte deren Gesten und Mimik, die Art, wie sie sprachen und über welche Fertigkeiten sie verfügten. Im Haus waren drei ihrer Vorgängerinnen angestellt, mit Olga waren es vier gewesen. Sie hatten sich für dieses Privileg besonders qualifiziert. Eine Moldawierin führte die Küche, eine Ukrainerin war als Friseuse beschäftigt. Gefügig waren sie alle gemacht worden. Teils mit Gewalt, teils mit der Drohung, daß ihre Angehörigen, Vater, Mutter, Großeltern und Geschwister, für Ungehorsam büßen würden. Sie ahnten, daß dies keine leere Drohungen waren. Jenseits der Grenzen waren sie so lange mißhandelt worden, bis ihr Widerstand gebrochen war. Tatjana Drakic versuchte herauszufinden, ob eine von ihnen sich für eine »höhere« Tätigkeit eignete. Für sie ließe sich ein anderer Preis verlangen, und vielleicht hatte eine von ihnen sogar die Fähigkeit, Olga zu ersetzen, wenn man sie entsprechend heranzog.
Die Friseuse hatte an diesem Morgen viel zu tun. In zwei Stunden müßten die Mädchen über glaubwürdige paßbildfähige Gesichter verfügen. Sie hatten so »italienisch« wie möglich auszusehen und sollten gut geschminkt sein. Für die Fotos würden sie mit billigem Schmuck behängt, den man ihnen nach den Aufnahmen wieder abnahm.
Viktor Drakic machte diese Arbeit Spaß. In einem der Zimmer war ein einfaches Fotostudio eingerichtet, es gab eine gelbe, eine schwarze und eine blaue Leinwand, die man als Hintergrund von der Decke herabrollen konnte. Lampen und zwei Kameras waren aufgebaut, eine einfache Paßbildpolaroid und eine automatische Spiegelreflex. Nach den Paßbildaufnahmen brauchte er noch andere Fotografien der Mädchen, die deutlich mehr zeigten als ihre Gesichter. Sie mußten in Stellungen posieren, die die Kunden reizten. Nur so konnte er sie mit Gewinn weiterverkaufen.
Zum Mittagessen würde er seine
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