Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
erledigten. Immerhin ersparte er sich die Häme gegen die Polizia Statale. Zu seiner Rechten saß Laurenti und hoffte insgeheim, daß seine Sache vielleicht doch keine Erwähnung fand. Aber die Journalisten waren daran viel mehr interessiert als an den dunkelblauen Schlauchbooten, über die sie selbstverständlich im gewünschten Ausmaß berichten würden.
»Wie stellt sich der Questore zu den Vorwürfen, die heute im ›Piccolo‹ zu lesen sind?« fragte der Korrespondent der nationalen Nachrichtenagentur.
»Es gibt keinen Grund, an der Integrität des Commissario zu zweifeln«, hob der Polizeipräsident an. »Commissario Laurenti ist ein angesehener Polizist mit großen Verdiensten. Auch die Arbeit der Polizei steht außer Frage. Ich habe mit den beiden Beamten gesprochen, mit denen Decantro unterwegs war. Sie weisen die Vorwürfe weit von sich. In der Nacht von Freitag auf Samstag haben sie vierundvierzig Personen kontrolliert, sie haben zwei Führerscheine eingezogen, sechs Autos wurden auf ihre Anweisung hin abgeschleppt. Sie schritten dreimal wegen Ruhestörung ein, haben im Borgo Teresiano elf Strafzettel ausgestellt und allein dort über zwanzig Fahrzeuge überprüft. Ferner verhafteten sie einen gewalttätigen Betrunkenen, lösten eine Schlägerei in einer Bar auf und kontrollierten eine Person, die in der Öffentlichkeit ihre Notdurft verrichtete. Bei einer Schichtdauer von zehn Stunden bedeutet dies durchschnittlich alle achteinhalb Minuten eine Maßnahme. Da kann man von Undiszipliniertheit nicht sprechen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag …« Die Aufzählung ähnelte der von zuvor. Die Strategie des Questore hieß offensichtlich Einlullen der Journalisten. Sie waren damit nicht zufrieden, und ihre Ungeduld wurde zuerst durch wiederholtes Räuspern und dann durch unüberhörbares Gemurmel deutlich. Endlich ließ der Questore Fragen zu.
»Stimmt es, daß der Commissario Beziehungen zum Milieu hat?«
Laurenti hatte keine Lust, noch länger zu warten. Er rückte schon seit geraumer Zeit unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Ja!« Er machte eine dramaturgische Pause. Alle starrten ihn an. »Ja, ich habe Beziehungen zum Milieu, und zwar die, die ein Polizist üblicherweise hat. Wir haben Verbindungsleute und Informanten, weil es bei bestimmten Ermittlungen ohne diese Verbindungen keinen Erfolg gibt.«
»Und was haben Sie die Dirne Freitag Nacht genau gefragt?« Der Jounalist hielt die Zeitungsseite mit dem Bild hoch. Einige von ihnen lachten.
»Ich habe sie gefragt, ob sie noch immer im Geschäft ist. Wir kennen diese Dame seit über fünfundzwanzig Jahren. Sie leidet unter der Konkurrenz und unter ihrem Alter. Ich war auch am Sonntag morgen noch einmal bei ihr zu Hause, falls mich jemand gesehen haben sollte. Nicht nur, als ich aus dem Haus kam, um alle Mißverständnisse gleich auszuschließen, Signori. Begleitet übrigens von einem Beamten. Es handelte sich noch immer um dieselbe Befragung.« Laurenti schaute lauernd ins Publikum.
Dann berichtete er, daß die Prostituierten sich nur kurz in der Stadt aufhielten, weil sie meist bloß eine dreimonatige Aufenthaltsbewilligung besaßen, eine halbjährige, wenn sie bei einer Behörde als »Künstlerinnen« durchgegangen waren. Längere so gut wie nie. Die Mädchen mußten reisen, um nicht aufzufliegen, und ihre Zuhälter hielten oft weitere Pässe für sie bereit, die dann verwendet wurden, wenn die Fristen abgelaufen waren. Oder sie schickten sie in ein anderes Land, wo das Spiel das gleiche war.
»Es ist auch«, fuhr er fort, »ein entscheidender Beitrag zur Sicherheit der Bürger, wenn die Polizei die Mädchen im Auge hat. Warum, glauben Sie, verlangt selbst die Alleanza Nazionale die Rücknahme der ›Legge Merlins was nichts anderes heißt, als die Bordelle im ganzen Land wieder zuzulassen.«
In der Tat hatten die Postfaschisten in den vergangenen Wochen immer wieder diese Forderung öffentlich gestellt.
»Nicht die Prostituierten, meine Damen und Herren, sind die Gefahr. Heute sind sie die Opfer. Junge Mädchen aus Rußland, Rumänien, Albanien, Afrika und Südamerika. Entführt oder von den eigenen Familien für ein paar tausend Deutsche Mark oder Dollar verkauft. Mit dem Versprechen auf Arbeit als Hausangestellte und einer Aufenthaltsbewilligung kommen sie illegal ins Land. Man bedroht sie, vergewaltigt sie, foltert und schlägt sie, bis sie jeden Widerstand aufgeben. Sie werden von Stadt zu Stadt verfrachtet und wissen meistens nicht
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