Heiss wie der Sommer
gewesen.
„Ich werde mit Jim reden“, versicherte er Tyler.
Der nickte nur. Zu groß waren die Schmerzen, die seine Erinnerungen geweckt hatten.
Als Kinder waren er, Dylan und Logan oft aneinandergeraten, dennoch jederzeit füreinander eingetreten. So hatte Logan immer dafür gesorgt, dass Dylan und er Essensgeld für die Schule bekamen und dass es für jeden von ihnen zu Weihnachten Geschenke gab.
Was war geschehen, dass sie heute einander so fremd waren?
Als Dylan an Tyler vorbeiging, legte er ihm kurz eine Hand auf die Schulter. „Du hast ja meine Handynummer. Ruf mich an, wenn dein Truck fertig ist, dann fahre ich dich zur Werkstatt.“
Lily erwachte bei Sonnenuntergang. Sie hörte Stimmen aus der Küche, ihr Vater unterhielt sich mit ihrer Tochter. Was für eine ungewöhnliche Kombination! Aus dem Nachbargarten waren die immer gleichen Geräusche eines Rasensprengers zu hören.
Sie setzte sich in dem schmalen Bett auf, das im früheren Nähzimmer ihrer Mutter stand, lächelte, gähnte und streckte sich. Eigentlich hatte sie sich nach dem Mittagessen nur ein wenig ausruhen wollen, doch dann war sie so tief und fest eingeschlafen, dass nicht mal ihre Träume sie hatten erreichen können.
Eine Zeit lang war ihr damit gnädigerweise die gewöhnliche Realität erspart geblieben.
Und damit auch ihre Schuldgefühle wegen Burkes Tod.
Und der tiefe, breite Graben zwischen ihr und dem Mann, den sie früher einmal „Daddy“ genannt hatte.
Und die beharrliche Einsamkeit.
Sie saß eine Zeit lang da und lauschte dem melodischen Klang von Tess’ Stimme, während sie ihrem Großvater von der Vorlesestunde in der Bibliothek erzählte. Es war viel zu lange her, dass Lily sie so fröhlich gehört hatte; Tess war für gewöhnlich sehr ernst. Wie eine verlorene Seele, die, allen Widrigkeiten zum Trotz, weitermachte.
Hal lachte herzlich über eine von Tess’ Bemerkungen. Er war schon immer ein guter Zuhörer gewesen – bis er irgendwann beschlossen hatte, nicht mehr zuzuhören. Jedenfalls dann nicht, wenn Lily redete. Als sie ihn nach der Scheidung ihrer Eltern anrief und von ihm hören wollte, dass trotzdem alles weiter so sein würde wie zuvor, da wies er sie schroff ab und ließ sie mit ihrer Trauer allein.
Als Lily jetzt die Küche betrat, da saßen Tess und Hal beim Abendessen am Tisch. Es gab Spaghettiauflauf, die Spezialität von Janice Baylor, der langjährigen Sprechstundenhilfe ihres Vaters. Tess’ schmales Gesicht strahlte vor Freude über das nachmittägliche Abenteuer mit Kristy in der Bibliothek.
Lily verkniff sich einen Kommentar über Janice’ viel zu fetten Auflauf und lächelte. „Was riecht denn hier so lecker?“
„Mrs. Baylor hat uns Spetti gemacht“, erwiderte Tess fröhlich.
Nach Hals Blick zu urteilen, erwartete er von ihr wohl einen Vortrag zum Thema Tofu. „Du siehst etwas besser aus“, sagte er. „Nicht mehr ganz so sehr durch den Wind.“
Lily nickte. Eigentlich hätte sie jetzt gern geduscht und sich wieder schlafen gelegt – ob sie je all ihren versäumten Schlaf würde nachholen können? –, aber eine warme Mahlzeit hatte sie jetzt dringender nötig, und noch wichtiger war ihr jetzt die Gesellschaft ihres Vaters und ihrer Tochter.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie Hal. „Hast du dich heute Nachmittag ausgeruht?“
Hal grinste sie an. Hier, bei sich zu Hause, wirkte er nicht so blass und hager wie im Krankenhaus. Auch machte er jetzt nicht mehr einen so aufgewühlten Eindruck, und es schien, als hätte er sich entschieden weiterzuleben.
„So gut es ging, wenn man bedenkt, dass die halbe Stadt vorbeigekommen ist, um uns etwas zu essen zu bringen“, entgegnete er. „Es hat mindestens ein Dutzend Mal geklingelt.“
Lily erschrak. Sie hatte nichts davon gehört, sondern einfach durchgeschlafen. Wie wollte sie sich um ihren kranken Vater kümmern, wenn sie derartig tief und fest schlief?
Ihre Gedanken mussten ihr anzusehen sein, denn Hal zwinkerte ihr zu und sagte leise: „Setz dich hin, Lily. Du bist jetzt zu Hause.“
Du bist jetzt zu Hause.
Kristy hatte vorhin etwas ganz Ähnliches gesagt.
Was für ein schöner Wunschtraum!
, schoss es Lily durch den Kopf. Aber sobald ihr Vater wieder zu Kräften gekommen war und wieder selbst für sich sorgen konnte, würde sie mit Tess in ihr gewohntes Leben in Chicago zurückkehren. Dort hatte sie ihr Apartment. Dort besuchte Tess eine Privatschule. Und dort hatte Lily ihren Job als Einkäuferin eines Onlineversands
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