Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
mitfühlend die Schulter. Die nette Geste bewirkte, dass eine dicke Träne über Heathers Wange rollte. Mit ihrem glänzenden weizenblonden Haar und der pfirsichzarten Haut schaute sie sogar noch reizender aus als gewöhnlich. Genau genommen sah sie sogar aus wie eine Schauspielerin, die für die Kamera weinte. Doch ungeachtet des Aussehens des Mädchens wusste Mariann, dass Heathers Gefühle so real waren wie ein Sommersturm. Sie war empfindsam wie ein neugeborenes Kind, und Mariann brachte es nichts übers Herz, sie abzuhärten.
Da das Inn zu Renovierungen geschlossen war, war nicht viel los im Geschäft, und Heathers Feuerprobe konnte warten.
»Es ist alles nur Erfahrung«, sagte Mariann. »Und meine kalten irischen Hände. Sie verhindern das Verschmelzen der Butter mit dem Mehl. Als ich in Boston arbeitete, kannte ich einen Italiener, der seine Hände für zwei volle Minuten in Eiswasser tauchte, bevor er einen Klumpen Teig auch nur ansah.«
»Ja, ja«, murmelte Heather und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Die Wenigen, die Stolzen und die Konditoren.«
Mariann lachte, weil sie wusste, dass es Heather wieder gut ging, wenn sie scherzte. Das Mädchen lächelte ein wenig unsicher zurück.
»Du hast dich verspätet«, bemerkte Heather mit einem vielsagenden Blick zur Uhr. Anscheinend verbesserte dieses noch nie da gewesene Ereignis ihre Stimmung.
»Haarprobleme«, erklärte Mariann zu ihrer eigenen Überraschung. Beim Verlassen ihres Hauses hätte sie noch geschworen, dass sie als Erstes mit ihrer Begegnung mit dem Wolf herausplatzen würde. Aber jetzt nahm sie die Lüge nicht zurück.
Aus Gründen, die sie nicht näher untersuchen wollte, zog Mariann es vor, ihren morgendlichen Besucher für sich zu behalten.
2. Kapitel
B astien Luce stand im Dunkeln vor der Bäckerei und blickte in das hell erleuchtete Lokal hinein. Vollkommen reglos, mit einem Herzen, das so selten wie nur einmal in der Stunde schlagen konnte, schickte er seine Sinne auf die Suche nach Gefahren. Wenige nur waren groß genug, um ihm zu schaden. Die Nacht war sein Reich, die Sonne sein Feind. Die Menschen – hätten sie von seiner Existenz gewusst –, würden ihn als Vampir bezeichnen. Innerhalb seiner eigenen Spezies allerdings war er ein Upyr .
Die Upyrs waren eine Rasse gestaltwandelnder, unsterblicher Wesen, teils Wolf, teils Vampir, und von einer Macht und Schönheit, mit der kein anderes Geschöpf sich messen konnte. Doch Macht und Schönheit mussten verborgen werden, wenn ein Upyr sich im Reich der Sterblichen bewegte. Heutzutage konnten nur wenige ohne Blendwerk und Charisma überleben, den Gaben, die es ihnen erlaubten, wie Menschen auszusehen, oder, falls sich das als unmöglich erwies, die Menschen glauben zu machen, dass sie nicht gesehen hatten, was sie gesehen zu haben glaubten. Leider waren nicht mehr genügend unberührte Orte geblieben, um ganz abseits der Menschen leben zu können.
Wie ihre vierbeinigen Brüder kämpften auch die Upyr um das Überleben. Unsterblich bedeutete nicht unzerstörbar, zumal das moderne Leben sehr viele Gefahren bereithielt. Kameras konnten sie ohne ihr Wissen beobachten, Ärzte konnten ihre einzigartige Genetik erforschen, und Schwertkämpfer waren wohl kaum noch nötig, wenn jeder Idiot mit einer Kreissäge ihnen den Kopf abtrennen konnte. Selbst ein gebrochenes Herz konnte Bastiens Spezies ins Verderben treiben.
Er glaubte zwar nicht, dass er Gefahr lief, so zu enden, aber er hatte auf jeden Fall schon glücklichere Zeiten erlebt. Noch keine sechs Monate zuvor erst war er aus seinem Rudel ausgestoßen worden.
Zum zweiten Mal in seinem Leben war er gezwungen worden, ein Land zu verlassen, das er als Zuhause betrachtet hatte – das erste Mal von einem Tyrannen und nun von einem Freund.
Zumindest war seine zweite Verbannung, aus Schottland diesmal, auf freundliche Art erfolgt, samt gemurmelten Bemerkungen wie: »Wird Zeit, dass du dir die Beine mal vertrittst« oder »Wir könnten wirklich deine Hilfe brauchen, um einen Machtbereich auf der anderen Seite des großen Teiches aufzubauen« und so weiter und so fort. Egal, was sein Rudelführer Ulric sagte, Bastien kannte instinktiv die Wahrheit.
Er war zu mächtig geworden, um zu bleiben, mächtig genug, um ein Ältester sein zu können: einer der wenigen, die Menschen in Upyrs verwandeln konnten. Bastien konnte aber auch kein Untergebener im Rudel eines anderen Führers sein, da seine Natur von ihm verlangte, sein eigenes zu
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