Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
Karriere auf dem Spiel stand, traute Mariann ihr – und ihrem dubiosen Ehrgefühl – leider sehr wohl zu, dass sie der Versuchung nicht würde widerstehen können.
Deshalb trat sie in die Pedalen, bis sie schwitzte, nur um das Tagebuch genau am selben Platz zu finden, wo sie es liegen gelassen hatte. Erleichtert drückte sie es an sich.
»Danke«, flüsterte sie welchem Schutzengel auch immer zu, der auf sie achtgab. Mariann glaubte nicht, dass sie es verkraftet hätte, sich noch mehr von Arabella stehlen zu lassen. Dieses Biest hatte ihr schon genug angetan.
Das Buch sicher im Fahrradkorb verstaut, kehrte Mariann um und fuhr diesmal weitaus langsamer, um die Heimfahrt zu genießen. Da Maple Notch nicht gerade für sein Nachtleben bekannt war, hatte sie die zweispurige Straße ganz für sich allein. Mariann klopfte auf die Gürteltasche, um sicherzugehen, dass sie ihr Handy dabeihatte, und entspannte sich, als sie es fühlte. Die Tourismus-Saison war gut, aber diese Ruhe war es auch. Mehr in Frieden mit sich selbst, als sie es seit Monaten gewesen war, füllte Mariann ihre Lunge mit der frischen, sauberen Landluft. Es war mild, die Sterne funkelten wie Schmuck an dem schwarzen Band über den Baumwipfeln, und sie, Mariann, war jung – mehr oder weniger jedenfalls –, gesund und höchstwahrscheinlich kurz davor, sich auf eine heiße Affäre einzulassen. Ob Kleinstadt-Bäckerin oder nicht – sie bezweifelte, dass das Leben noch viel besser werden konnte.
Das Näherkommen eines Wagens schien Mariann kein Grund zur Beunruhigung zu sein. Ihr Fahrrad hatte Rückstrahler, und sie trug ein weißes Hemd. Überzeugt, dass sie gut zu sehen war, lenkte sie das Rad ein wenig dichter an den Straßenrand und ersparte sich die Mühe, sich umzuschauen.
Erst als der Motor des Wagens aufheulte, ging ein Adrenalinstoß durch ihre Adern.
Bastiens Kopf fuhr hoch, als seine scharfe Wolfsnase Marianns Witterung aufnahm. Nachdem Emile und er ihren Hunger an einem fetten Waschbär gestillt hatten, waren sie durch den Wald getollt, hatten nur zum Vergnügen Kaninchen hin und her gescheucht und auch sonst noch eine Menge Spaß gehabt. Bastien war froh über die Ablenkung gewesen, doch die Hoffnung, jetzt auch noch die Quelle seiner romantischen Träume zu sehen, hatte sich rein zufällig ergeben.
Schokolade!, dachte der Teil von ihm, der nicht menschlich war, und: Geh zu ihr, und lass dich hinter den Ohren kraulen!
Ohne darauf zu achten, über wessen Land er rannte, trabte er auf den verlockenden Geruch zu.
Er kam gerade noch rechtzeitig, um den Wagen um die Kurve brausen zu sehen.
Es war ein großer schwarzer Mercedes, der ohne Licht fuhr und auf der Bergstraße fast nicht zu sehen war. Und als wäre das noch nicht beunruhigend genug, schwenkten die Räder plötzlich auf Mariann zu. Bastien, der fast nicht glauben konnte, was er sah, war einen Moment lang wie gelähmt. Wieso fuhr der Wagen so schnell? Der Fahrer musste Mariann doch sehen! Aber schon verbog sich knirschend das Schutzblech über ihrem Hinterrad, als es von der Stoßstange des Mercedes angetippt wurde, und Mariann flog in hohem Bogen in die Büsche, weiter, als Bastien es für möglich gehalten hätte.
Zu schockiert, um auch nur zu schreien, verschwamm die Welt vor seinen Augen, denn bei dem schrecklichen Geräusch ihres auf Stein aufprallenden Schädels war ihm augenblicklich klar, dass dies keine leichte Verletzung sein würde. Auf der Straße kam der Wagen mit quietschenden Bremsen zum Halten.
Nein, dachte Bastien. Nein, nein, nein.
Eine Autotür öffnete sich, und mit klickenden Absätzen näherte sich eilig eine Frau.
»Himmel«, murmelte Emile. »Sie ruft nicht den Notruf an, sondern durchsucht den Fahrradkorb!«
Die Worte sagten Bastien nichts. Obwohl er sich nicht erinnerte, sich verwandelt zu haben, kniete er in menschlicher Gestalt neben Mariann. Er war froh über seine Angewohnheit, sich stets eine auffallend elegante Erscheinung zu verleihen, denn sonst hätte er die ganze Straße erhellt mit seiner Nacktheit. Mariann lag mit seltsam verrenkten Gliedern hinter einer Wand aus Unkraut, wie eine zerbrochene, mit Blut und Schmutz verschmierte Puppe. Das durfte nicht wahr sein – nicht, nachdem er sie endlich gefunden hatte!
»Ja!«, zischte eine Stimme, die ihm bekannt erschien. Eine Wagentür wurde zugeschlagen, Reifen drehten sich, und Kies spritzte auf, als der Mercedes mit aufheulendem Motor davonjagte.
Bastien versuchte, ruhiger zu atmen.
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher