Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
zusammenkrampfte: eine Gestalt, die mit dem Rücken zu ihr neben dem Toyota kauerte und jemanden in den Armen hielt. Das Einzige, was von dieser zweiten Person zu sehen war, waren zwei kleine, reglose, mit Jeans bedeckte Beine.
Grace schnappte sich das Funkgerät. »Ich brauche einen Rettungswagen.«
»Nummer sechs ist unterwegs. Was haben Sie?«
»Ich weiß es noch nicht. Möglicherweise ein Kind. Und es sieht nicht gut aus.« Sie warf das Funkgerät auf den Beifahrersitz, stieg auf die Bremse, stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen, ohne sich damit aufzuhalten, den Hut aufzusetzen.
Als sie auf die beiden Menschen zurannte, sah sie, dass der Erwachsene eine Frau war. Ihre runden, molligen Schultern zuckten, als sie sich vor und zurück wiegte mit der kleinen Last auf dem Schoß, und ihre Stimme war nur noch ein dünnes, hoffnungsloses Wimmern. »Nein, Jesus, nein, nein, bitte nicht, Jesus …«
Grace hockte sich neben sie und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu fluchen, als sie genauer hinsah und erkannte, was die Frau in ihren Armen hielt.
Der Rettungswagen wurde nicht mehr gebraucht.
»Als würde den das kümmern!«
Verblüfft hob Grace den Kopf und erblickte einen Mann, der über ihnen stand. Ihr geübtes Polizistengehirn nahm seine Beschreibung wie automatisch auf: Weißer, Mitte fünfzig, dünn, mit Jeans und Arbeitshemd bekleidet. Er hatte Nasenbluten und schwankte sichtlich, aber vor allem ging ein Alkoholdunst von ihm aus, der Grace angewidert das Gesicht verziehen ließ. In seinen blutunterlaufenen Augen erwachte Furcht, obwohl er höhnisch grinste. »Es war ihre Schuld. Hören Sie nicht auf ihr Gerede, es war ihre Schuld.«
Bevor Grace etwas erwidern konnte, bog der Rettungswagen um die Ecke und hielt mit quietschenden Reifen hinter Grace’ Streifenwagen – was es ihr ermöglichte, sich mit dem Betrunkenen zu befassen, der Totschlag, also ein schweres Verbrechen, begangen hatte und sicherlich die Flucht ergreifen würde, falls sich die Gelegenheit bieten sollte.
Grace stand auf und ging auf ihn zu. Hinter ihr schrie die Frau verzweifelt die Sanitäter an, die auf sie zugerannt kamen. »Jemand soll meinem Baby helfen!«
»Sind Sie der Fahrer des Pick-ups, Sir?«, fragte Grace in ruhigem, beherrschtem Ton über das herzzerreißende Schluchzen der Frau hinweg, die die Sanitäter zu überreden versuchten, ihr kleines Mädchen hinzulegen.
Die Augen des Betrunkenen flackerten. »Nee! Da war noch ’n Typ. Aber der ist … abgehauen.«
»Sie verlogener Hundesohn!« Die Frau neben dem Toyota erhob sich schwerfällig. Ihre Augen waren trüb und leer vom Schock, trotz der Tränen, die im Scheinwerferlicht glänzten. »Es war niemand sonst da. Sie waren allein in diesem Kastenwagen!«
»Und wenn schon!«, brüllte der Mann zurück. »Wer schert sich schon um solch ein Balg?«
Die Frau stürzte mit ausgestreckten Fingern auf ihn zu, wohl um ihm die Augen auskratzen. Grace war stark versucht, sie gewähren zu lassen, ging aber trotzdem dazwischen, weil sie die Mutter festnehmen müsste, wenn sie den Mörder ihres Kindes verletzte.
Während sie versuchte, die Frau zu beruhigen, fuhr der Betrunkene herum und suchte das Weite. Fluchend ließ Grace die schluchzende Mutter los und sprintete hinter ihm her.
Aber er enttäuschte Grace, denn als sie ihn einholte, widersetzte er sich der Verhaftung nicht.
Bei ihrer Heimkehr vier Stunden später rauschte Grace das Blut noch immer in hilfloser Wut durch die Adern.
Sie wusste, dass eine gute Chance bestand, dass Richard George für den Tod der vierjährigen Tanisha Miller nicht bezahlen würde, trotz seiner fünf früheren Verurteilungen wegen Trunkenheit am Steuer, seines Fahrens ohne Führerschein und der Tatsache, dass er keine Spur von Reue zeigte. Bei Gericht würde sein Verteidiger Grace und den Autobahnpolizisten im Zeugenstand angreifen und versuchen, sie als übereifrige, verbohrte Bullen hinzustellen, deren Anschuldigungen gegen seinen unglücklichen Mandanten jeder Grundlage entbehrten. Er würde behaupten, ihre Aussage hinsichtlich der Alkoholwolke um den Angeklagten sei erlogen, und sich dann über die Unzuverlässigkeit des Urintests auslassen, der bewies, dass George das Doppelte der erlaubten Alkoholmenge intus gehabt hatte. Dann würde der Anwalt den Auftritt mit der krönenden Bemerkung zu der Jury abschließen, sein Mandant habe den zuverlässigeren Bluttest verweigert, weil er sich tatsächlich so vor Spritzen fürchte,
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