Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
Sie glaubten, ich schliefe? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Hinkle?«
»Wo haben Sie die Nacht verbracht, Jenny?«
Sie unterdrückte ihren Ärger, weil der ihn nicht vom Thema abbringen würde. »Ich bin noch mal in den Wald gegangen. Nach allem, was wir bisher wissen, ist dieses Wesen – falls es überhaupt existiert, was ich zu bezweifeln beginne – ein Nachttier. Ich hatte gehofft, es zu entdecken.« Sie zuckte mit den Schultern und seufzte schwer. »Aber ich fand keine Spur von ihm. Ich sage es nur ungern, Professor Hinkle, doch ich bin fast so weit, Ihnen zuzugestehen, dass Sie recht haben könnten. Möglicherweise vergeuden wir nur unsere Zeit hier unten.«
Er zuckte die Schultern. »Wir haben noch eine weitere Nacht, um Ergebnisse zu erzielen. Es ist schließlich noch immer Vollmond, wissen Sie.«
»Natürlich weiß ich das.«
»Falls wir auch danach noch keine Ergebnisse haben, drehe ich dem Projekt den Hahn zu. Dann werden wir morgen packen und zur Universität zurückkehren.«
Jenny nickte zu seinen Worten und versuchte, die Erleichterung darüber zu verbergen. Wenn er etwas wüsste – wenn er auch nur die leiseste Ahnung hätte –, würde er bestimmt nicht in Erwägung ziehen, das Projekt zu beenden. Aber welcher vernünftige Mann würde auch glauben, dass ein Mensch zu einem Wolf werden konnte? »Vielleicht wäre es das Beste.« Jenny hätte weinen können. All die Arbeit, all die Forschung – und nun, da sie dem Erfolg so nahe war, warf sie alles weg. Doch sie konnte ihren persönlichen Erfolg nicht auf der Zerstörung von Samuels Leben begründen. Das wäre unfair. Außerdem – so unvernünftig es ihr auch erschien – empfand sie etwas für diesen Mann. Etwas Starkes, sehr, sehr Machtvolles.
»Ich muss schon sagen, Professor Rose, ich bin überrascht. Normalerweise geben Sie nicht so einfach auf.«
Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, sich zumindest einen gewissen Enthusiasmus anmerken zu lassen. »Wie kommen Sie darauf, dass ich aufgebe? Wie Sie schon ganz richtig sagten, haben wir noch immer eine Nacht.«
»Ja. Wir haben noch immer eine Nacht.«
Bei diesen Worten war etwas in Hinkles Augen, das ihr plötzlich Angst einjagte.
Sowie er das Zimmer verlassen hatte, rief Jenny die passwortgeschützten Dateien auf und löschte alle. Sie hatte ihren Entschluss gefasst: Sie würde sich einen Namen machen, indem sie irgendeine vertretbare unbekannte Tierspezies entdeckte, jedoch nicht, indem sie einen Mann benutzte, der sich nach Kräften bemühte, sein Leben unter der schweren Last eines Fluches weiterführen zu können.
Jenny war nicht einmal sicher, dass sie an Flüche glaubte, aber sie wusste, mit wem sie über dieses Thema sprechen konnte. Und auch wenn sie sich dazu entschieden hatte, ihre Untersuchungen nicht mit Samuel als Studienobjekt fortzusetzen, hatte sie doch keineswegs beschlossen, den Kontakt zu ihm ganz abzubrechen.
Vielleicht kann ich ihm sogar helfen, dachte sie.
Diesmal steckte sie den Laptop in ihre Schultertasche, um ihn mitzunehmen. Sie würde das Ding nicht mehr aus den Augen lassen, bis sie eine neue Festplatte einbauen und die alte vernichten lassen konnte. Denn selbst wenn sie ihre Dateien löschte, würden sich Spuren von ihnen wiederherstellen lassen, falls sich jemand die Mühe machte. Die Tasche über der Schulter, ging sie in die Küche, wo Mamma Louisa Brotteig knetete.
Ohne aufzublicken, sagte die ältere Frau: »Hallo, ma chère . Ich nehme an, Sie suchen mich?«
»Ja.«
»Weiß er, dass Sie mit mir reden?«
Es war überflüssig zu fragen, wen sie meinte. Jenny war inzwischen sehr wohl bewusst, dass Mamma Louisa die Identität des loup garou bekannt war. »Nein. Er sagt, es hätte keinen Zweck, mit Ihnen zu sprechen, Sie hätten sich bereits geweigert, ihm zu helfen.«
Kopf und Augenbrauen der Haushälterin fuhren in die Höhe. »Das waren seine Worte?«
Jenny nickte.
»Pah! Dieser arrogante, besserwisserische Doktor!« Sie ballte die Hände zu Fäusten und stieß sie in den Teig.
»Sie meinen, Sie haben sich gar nicht geweigert?«
»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt: Ich kann den Fluch nicht aufheben. Das kann nur der, der ihn damit belegt hat. Und wie Sie sich denken könnten, ist meine Urgroßmutter Celeste schon lange tot.«
»Dann gibt es also keine Hoffnung mehr für ihn?«
Mamma Louisa legte ein Küchentuch über die Keramikschüssel mit dem Brotteig und stellte sie an ein Fenster, durch das die Sonne hereinschien. Dann
Weitere Kostenlose Bücher