Heißes Versprechen
Namen gehört haben. Was geht deiner Meinung nach hier vor?«
»Wer kann das bei einem Vanza-Meister schon sagen?« Madeline fuhr herum und begann, in der Bibliothek auf und ab zu laufen. »Aber irgendetwas hat er.«
»Irgendetwas?«
»Richtig.« Madeline machte eine Handbewegung, während sie nach den richtigen Worten suchte, die ihr Gefühl verdeutlichen sollten. »Ganz sicher kann er nicht als ein typischer Vertreter der höheren Gesellschaft gelten. Er scheint um einiges schwerer zu wiegen als die üblichen Leichtgewichte der Gesellschaft. Er ist ein Raubvogel unter lauter Motten.«
»Vermutlich ein reifer, wenn auch immer noch recht beweglicher Raubvogel unter Motten, sehe ich das richtig?«
Bernice’ Augen leuchteten amüsiert. »Was für eine interessante Beschreibung. So poetisch, geradezu metaphysisch.«
Madeline warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Meine Beschreibung Hunts belustigt dich?«
Bernice kicherte. »Meine Liebe, ich betrachte sie als unglaublich erleichternd.«
Madeline hielt abrupt inne. »Was willst du denn damit sagen?«
»Nach deiner Erfahrung mit Renwick Deveridge hatte ich schon befürchtet, du würdest nie wieder ein gesundes Interesse an der männlichen Welt zeigen. Jetzt jedoch erscheint mir diese Sorge als unbegründet.«
Madeline war vor Entrüstung sprachlos. Als sie sich schließlich wieder gefasst hatte, konnte sie immer noch keinen zusammenhängenden Satz bilden.
»Tante Bernice! Also wirklich!«
»Seit über einem Jahr kapselst du dich jetzt schon von der Außenwelt ab. Nach dem, was du durchgemacht hast, ist das durchaus verständlich. Doch wäre die ganze Sache noch tragischer gewesen, wenn du niemals wieder deine weiblichen Gefühle zurückerlangt hättest. Ich werte dein offensichtliches Interesse an Herrn Hunt als ein sehr gutes Zeichen.«
»Um Himmels willen, ich habe aber gar kein Interesse an ihm.« Madeline marschierte zu dem Bücherbord zurück. »Jedenfalls nicht auf die Art und Weise, die dir vorschwebt. Doch bin ich überzeugt davon, dass jetzt, wo er von der Existenz von Papas Aufzeichnungen weiß, es sehr schwer sein wird, ihn abzuschütteln. Also sollten wir unseren Nutzen aus ihm ziehen, wenn du verstehst, worauf ich hinaus möchte.«
»Du könntest Hunt die Aufzeichnungen ganz einfach geben«, bemerkte Bernice trocken.
Madeline hielt vor dem Bücherbord inne. »Glaube mir, diese Möglichkeit hatte ich bereits erwogen.«
»Aber?«
»Aber wir benötigen sein Sachverständnis. Warum also nicht einen Handel eingehen, um uns seiner Hilfe zu versichern und zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen?« Wie ihr selbst auffiel, bediente sie sich heute Morgen einer ganzen Reihe von Redewendungen.
»Ja, warum auch nicht?« Bernice blickte auf die Glöckchen an den Fensterläden. »Sollten wir Herrn Hunt die Aufzeichnungen nicht im Gegenzug für seine Dienste anbieten, so wird er sie sich in einer dunklen Nacht selbst holen.«
Am nächsten Morgen legte Madeline die Feder, die sie für ihre Aufzeichnungen benutzt hatte, nieder. Dann schlug sie das schlanke, in Leder gebundene Buch zu, das sie zu entziffern versucht hatte.
Entziffern war genau der richtige Ausdruck, dachte sie. Das schmale Büchlein war sehr alt und recht abgenutzt. Darin stand ein Wust mit der Hand geschriebener, offenbar sinnloser Sätze. So weit sie es einschätzen konnte, waren die Worte eine Mischung aus altem Griechisch, ägyptischen Hieroglyphen und der altertümlichen, schon lange toten Sprache des Vanzagara. Vor drei Wochen war es nach einer langen und umwegreichen Reise von Spanien hier abgegeben worden und hatte ihre Aufmerksamkeit schlagartig gefangen genommen. Sie hatte sich sofort an die Arbeit gemacht.
Bisher jedoch hatte sie nicht viel Fortschritte erzielen können. Das Griechisch war zwar einfach, doch die übersetzten Worte ergaben keinerlei Sinn. Die Hieroglyphen waren für sie total unverständlich, doch hatte sie gehört, dass Thomas Young eine interessante Theorie der ägyptischen
Schrift aufgestellt hatte, die auf seiner Arbeit über den Rosetta-Stein beruhte. Leider hatte er seine Ergebnisse bisher noch nicht veröffentlicht. Was die altertümliche Sprache des Vanzagara betraf, so wusste sie, dass sie eine der wenigen Gelehrten war, die diesen Text auch nur teilweise zu übersetzen verstanden. Nur sehr wenige Menschen außerhalb der Familie waren sich ihrer Fähigkeiten bewusst. Das Studium des Vanza und seiner toten Sprache war ausschließlich Gentlemen
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