Helix
war ungefähr halb so groß wie ihr verlorener Sonie. Doch die Oberfläche war nicht eben, sondern wirkte beinahe willkürlich zerknittert. Savi war beunruhigt.
Am 12. November 1912, als der antarktische Hochsommer nicht mehr fern war, wurde eine Suchexpedition ausgesandt, um sich über das Schicksal von Scotts Polarexpedition Gewissheit zu verschaffen, und hatte Erfolg. Apsley Cherry-Garrard, ein erfahrener Polarforscher, der um ein Haar Scott zum Pol begleitet hätte, fand zusammen mit Atkinson und Dimitri das Zelt, in dem Scott gestorben war. Es war kaum mehr als ein »kleiner Hügel«, nur ein Bambusstab von drei Fuß Länge ragte noch aus dem Schnee. Sie gruben aus, was darunter war.
»Bowers und Wilson lagen in ihren Schlafsäcken«, schrieb Cherry-Garrard in sein Tagebuch. Savi hatte eine Kopie des Tagebuchs dabei. »Scott hatte die Klappen seines Schlafsacks zurückgeschlagen. Die linke Hand hatte er zu Wilson ausgestreckt, seinem lebenslangen Freund. Unter dem Kopfteil seines Schlafsacks, zwischen dem Schlafsack und dem Stoffboden des Zelts, fanden wir die grüne Mappe, in der er sein Tagebuch aufbewahrte. Die braunen Tagebücher waren darin, und auf dem Boden lagen noch einige Briefe.«
Später heißt es: »Wir haben sie nicht bewegt. Wir haben die Bambusstangen aus dem Zelt genommen, und das Zelt selbst hat sie bedeckt. Darüber errichteten wir ihr Grabmal.«
Das Zelt hatte sich 1912 fast zweihundert Meilen südlich der Grenze zwischen Schelf und offenem Meer befunden. Aber das Eis war zum McMurdo-Sound und zum Ross-Meer geflossen, nachdem Atkinson und Cherry-Garrard das Zelt über den drei Toten hatten zusammenfallen lassen.
Savi lachte laut, als sie erkannte, welche Richtung ihre Gedanken nahmen. Es war absurd. Selbst ohne Zugang zu einer Mathefunktion wusste sie, dass das Zelt die Grenze zwischen Schelf und Meer schon vor vielen Jahrhunderten erreicht haben musste. So tief es auch unter Eis und Schnee begraben gewesen war, es musste längst fort sein – nach Norden getragen durchs Meer, untergegangen. Sie lachte wieder.
Irgendwo tief in den Eistunneln lachte ein Mann, als wolle er ihr antworten.
Pinchas und Petra hatten andere Sorgen, als über Savis Aufenthaltsort nachzudenken. Die beiden Wochen vor dem Fax waren wie ein einziger Spießrutenlauf zwischen Partys, die es zu meiden galt. Sie mussten Freunde treffen, Lebewohl sagen, einige Orte besuchen, bevor es zu spät war, Emotionen sortieren. Sie warteten darauf, dass Savi wieder auftauchte – und sie brüteten weiter über Savis geheimnisvollen Notizen, auch wenn sie nur Amateure waren –, doch sie hatten hier wie dort kein Glück. »Neugierde«, sagte Petra, und es war nur zur Hälfte ironisch gemeint. »Neugierde scheint kein Zug der Eloi zu sein.« Vielleicht war es die Bemerkung über die »verdammten Eloi«, die Pinchas und ihr wehtat und ihnen die Lust nahm, ihre frühere Geliebte zu suchen.
Graf rief sie einen Tag nach dem Abendessen in Mantua an. Seine physikalische Bibliothek hatte nichts zu »Voynich Ms.« ergeben, und deshalb hatte er, wie er gestand, schließlich doch noch die Farnet-Archive benutzt. Auch dort gab es nichts. Aber es tauchten auch keine Nachmenschen in Springerstiefeln vor seiner Tür auf und verlangten zu wissen, warum er sich für diese Dinge interessierte. Die einzige Reaktion, sagte Graf, sei eine aufrichtige Entschuldigung des Bibliothekskonstrukts gewesen, weil man nicht finden könne, was er suchte.
Sieben Tage vor dem letzten Fax brach Pinchas mit Petra zu einem letzten Sonie-Flug ins nordamerikanische Naturschutzgebiet auf. Sie machten ein Picknick in den Adirondacks, schossen Fotos von Dinosauriern in den Sümpfen des Mittleren Westens, schwammen in einer raubtierfreien Zone des zentralen Binnenmeeres und aßen in der Nähe von Three Heads zu Abend.
Die Tage waren lang, deshalb hatten sie Zeit, den Harney Peak von ganz unten aus zu besteigen. Beide waren in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, doch sie keuchten ein wenig, als sie den Felsgipfel des Berges erreichten. Der Ausblick war herrlich. Weit im Westen stand die Sonne dicht über dem Horizont. Die drei noch existierenden Köpfe am Mt. Rushmore waren ein paar Meilen weiter im Norden zu sehen. Im Osten strahlten die Badlands weiß, tiefschwarze Schatten krochen zwischen die Erhebungen, und im Hintergrund schimmerte dunkelgrün das Meer.
Pinchas holte Wasserflaschen und einige Orangen aus seinem Rucksack. Er wusste, dass sich das
Weitere Kostenlose Bücher