Hell's Angels (German Edition)
Suche nach ihm den Highway abfuhren. Für einen Moment stand er neben Tiny am Lagerfeuer, und der Gegensatz zwischen den beiden war unglaublich. Ein anständiger Junge von etwa sechzehn Jahren, der ein weißes T-Shirt und eine Chinohose trug, schnappte da Gebirgsluft neben einem hühnenhaften, haarigen Outcast, der sämtlichen Lastern verfallen war und auf seiner Jacke einen Aufnäher trug mit dem Spruch: »Ich komme garantiert in den Himmel, denn in der Hölle war ich schon lange genug.« Zusammen sahen sie aus wie die Gestalten eines sinistren Gemäldes, eines Porträts des Menschentiers, das sich am jüngsten Tag selbst gegenübertritt – als wären aus einem doppeldotterigen Ei sowohl ein Huhn als auch ein wilder Büffel geschlüpft.
Tiny würde einen guten Reporter oder Schauspielagenten abgeben. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Kontakte, ist immer auf dem Laufenden und bestrebt, vertrauliche Informationen und die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Er ist ein großer Telefonierer und führt ständig Ferngespräche. In Oakland hat er etliche Münzfernsprecher, an denen er R-Gespräche aus Boston, Providence, New York, Philadelphia und weiß Gott woher sonst noch entgegennimmt. Er geht vor wie ein Meisterverbrecher, behält stets das Geschehen und die sich bietenden Gelegenheiten im Auge. In Bars setzt er sich immer mit dem Gesicht zur Tür. Während andere Angels ohne Sinn und Verstand saufen und schwatzen, macht sich Tiny Gedanken über gerade nicht erreichbare Kontaktleute, über Ereignisse, von denen er nur in Andeutungen gehört hat, oder irgendwelche Details, die unverhofft eine entscheidende Rolle spielen könnten.
Er ist 1,95 groß, und sein Gewicht schwankt je nach Gemütsverfassung zwischen 113 und 122 Kilo – und die ist derart wechselhaft, dass er wahrscheinlich einer der bestgelauntesten aber auch einer der gefährlichsten aller Angels ist. Andere sind schneller dabei, zuzuschlagen, richten dabei aber nicht halb so viel Schaden an. Tiny tut Menschen weh. Wenn er wütend wird, verliert er völlig die Beherrschung, und sein riesiger Körper wird zu einer tödlichen Waffe. Es fällt schwer, sich vorzustellen, welche Rolle er in der normalen, bürgerlichen Gesellschaft hätte spielen sollen.
Während dann Geld für Bier gesammelt wurde, leuchteten mit einem Mal die Scheinwerfer eines Autos aus dem Wald. Einige wenige Motorräder waren nach zehn Uhr noch angekommen, aber keine Autos mehr, und dieser Anblick sorgte für einiges Aufsehen. Wie sich herausstellte,
war es Filthy Phil, ein Ex-Präsident des Frisco-Chapters, der erklärte, er habe ein fünfzehnjähriges Mädchen am Highway versteckt, und brauche nun Hilfe, um sie an der Straßensperre vorbeizuschleusen.
Nun ging der Abend erst richtig los. Man beschloss, alles in einem Aufwasch zu erledigen. Phil und ich würden Bier holen fahren, auf dem Hinweg versuchen, den Jungen an der Straßensperre vorbeizubringen und Pete und Puff zu einer Stelle im Wald bringen, an der sie das Mädchen finden konnten. Filthy Phil sah alles andere als filthy , schmuddelig, aus. Er trug eine Anzughose, ein weißes Hemd und einen blauen Kaschmirpullover. Es war für ihn nicht leicht gewesen, bis zum Camp vorzudringen, erzählte er, denn die Polizisten kauften ihm nicht ab, dass er ein Angel war. Er sah eher aus wie ein Polizist, der nicht im Dienst war, oder wie ein muskulöser Rausschmeißer aus irgendeinem Club am Sunset Strip. Sein Wagen, ein fabrikneuer weißer Chevrolet Impala, wirkte hier ebenso fehl am Platz wie seine Kleidung.
Gut fünfzig Meter vor dem Highway zeigte er auf die Stelle, an der das Mädchen sich versteckte, und die beiden Angels gingen in den Wald, um sie zu holen. Wir fuhren weiter den Weg hinab bis zu der Straßensperre. Dort standen drei Fahrzeuge und mindestens zehn Polizisten, befehligt von einem weißhaarigen Captain der Highway Patrol. Unser blinder Passagier saß auf der Rückbank, und gerade als der Captain uns fragte, was wir vorhätten, fuhr ein anderer Wagen vorbei, und der Junge rief: »Das sind sie!« Ich hupte, das Auto hielt, der Junge sprang raus und war Sekunden später verschwunden. Die Polizisten glaubten, sie seien übertölpelt worden. »Sie wollen damit sagen, der Junge war die ganze Zeit da drin?«, fragte einer. »Ist er verletzt? Was geht da vor sich?«
»Nichts«, sagte ich. »Es ist langweilig. Fahren Sie hin und überzeugen Sie sich selber. Sie werden sich wundern.«
Der Captain dachte lange über die Lügen
Weitere Kostenlose Bücher