Hendlmord: Ein Starnberger-See-Krimi (German Edition)
Wohnzimmer, wo mir das aufgeschnittene Sofa seine Sprungfedern präsentiert. Die Schublade unterm Fernsehschrank ist ein Stück aufgeschoben. Als ich einen Blick hineinwerfe, will ich ihn eigentlich auch gleich wieder rauswerfen, aber meine Augen bleiben auf dem Familienstammbuch kleben. Wissen täte ich schon gern, was sonst keiner im Dorf weiß, nämlich wer eigentlich der Vater von der Amrei ist. Aber ob das da überhaupt drinstände? Und außerdem gehört es sich nicht, in anderer Leute Privatsachen herumzuschnüffeln. Andererseits liegt es in meinen Genen, ich kann nichts dafür. Wie Gelegenheit Diebe, so macht Hilfsbereitschaft neugierig. Das hat meine Mama ausgenutzt, als sie den Briefträger auf dem Heimweg vom Einkaufen getroffen hat. «Ist was für uns dabei?», hat Anni Halbritter gefragt und angeboten, die restliche Post an seiner Stelle die Starnberger Straße entlang einzuwerfen. Sie müsse sowieso den Berg hinauf, dann würde er sich den Weg sparen. So konnte sie in Ruhe die Absender der Briefe studieren, die Postkarten lesen und war über die Nachbarschaft ringsum auf dem neuesten Stand. So ein Erbe kriegst du nicht los, Widerstand zwecklos. Ich gebe auf und blättere in dem Familienbuch. Viel steht nicht drin, die meisten Seiten sind noch leerr und der Christl ihre Herkunft ist mir bekannt. In der hinteren Falttasche liegt ein dünnes Blatt, vermutlich eine Dokumentenkopie. Ich zieh es heraus. Treffer. Schnell winke ich die Sophie zu mir her.
«Na, das ist doch mal was.» Sie liest meinen Fund und stößt einen leisen Pfiff aus. «Aber lass uns das besser vorerst für uns behalten, ja? Das könnte ein Tatmotiv sein.»
«Was, du meinst, dass der …?»
Sie legt den Finger an die Lippen. Zähneknirschend stimme ich zu. Sonst die Verschwiegenheit selbst, würde ich dieses Geheimnis am liebsten sofort in die Gemeindeschaukästen tackern. Schorschi hat sein Bad beendet, hockt aufgeplustert auf dem Fernseher und kratzt sich mit dem Schnabel unter den Achseln. Wir folgen dem Gestank der Katzenkloessenz weiter und gelangen ins Schlafzimmer. Auf dem Nachtkästchen schwelt ein Kerzenstummel, ein Löffel mit klebriger Substanz liegt daneben. Die Christl liegt auf dem Bettvorleger. Den linken Oberarm hat sie mit ihrem Haarband zusammengezurrt, in ihrer Armbeuge steckt eine Spritze. Ich bücke mich zu ihr und streiche ihr die graublonde Mähne aus dem Gesicht. Die Augen sind offen, die Pupillen verdreht. Ich taste nach ihrer Halsschlagader. Nichts. Kein Puls mehr. Ihr Atem steht still. Ausgelichtelt.
Ohne weiter irgendetwas anzulangen in der Christl ihrer Wohnung, verständigt Sophie die Kripo-Kollegen. Sie ruft auch in München in der Rechtsmedizin an und bestellt diese Carina Kyreleis her. Trotz Spritze und Fixerbesteck ist es ein ungeklärter Todesfall, und die Leiche muss obduziert werden. Den Schorschi sperre ich in die Voliere auf dem Balkon, dann warten wir draußen vorm Haus auf das Ermittlerteam. Ausnahmsweise ist es ein Vorteil, dass keine Kundschaft vor dem
Chakra
in den Laden drängt. Wir beschließen, dass ich am besten der Amrei und dem Emil entgegenlaufe. Das arme Mädchen. Mit einem mulmigen Gefühl gehe ich durchs Dorf. Womöglich war ich der Letzte, der die Christl noch lebend gesehen hat. Hätte ich ihren Tod verhindern können? Von wegen halber Doktor und Wehwehchen kurieren. Nichts da. Doch wem nützt es, wenn ich mich deswegen zerfleische. Meine Aufgabe ist es jetzt, die Kinder zu schützen, vor allem die Amrei, die ihre Mutter verloren hat. Dankbar, dass mir niemand begegnet und ich mit keinem reden muss, biege ich in die Hindenburgstraße ein. Auf Höhe der Habsburgvilla kommen mir die beiden Frischverliebten entgegen. Arm in Arm stapfen sie den Berg hoch und winken mir. Als sie ein paar Schritte näher sind, sehe ich an ihren plötzlich besorgten Gesichtern, dass sie ahnen, dass etwas Schlimmes passiert ist. Wie ich bei ihnen bin, bring ich’s kaum raus, sofort rinnen mir die Tränen herunter. Alle drei hocken wir uns einfach aufs Trottoir und heulen. S-Bahnfahrer in schnellen Schritten trampeln um uns herum, weiter in Richtung Bahnhof oder ins Dorf rauf. Eine dreifarbige Katze flitzt knapp vor dem Linienbus über die Straße. Eine Kindergartengruppe wird von zwei Erzieherinnen über die Straße an der Habsburgvilla vorbei in den Keferweg geleitet. Wir werden beäugt, aber keiner redet uns an. Ein kleines Mädchen bleibt stehen, kramt in seinem Rucksack und reicht uns eine Packung
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