Herbst - Zerfall
erwachte, herausfand, dass sie alleine war – ohne die Möglichkeit, den anderen zu folgen oder auch nur zu wissen, in welche Richtung sie aufgebrochen waren. Caron fühlte sich beschissen, was auch immer Ellie zugestoßen sein mochte – und sie hoffte um ihretwillen, dass sie einen raschen und relativ schmerzlosen Tod gestorben war.
Sie wandte sich vom Fenster ab und ging zu dem kleinen Badezimmer am gegenüberliegenden Ende des Zimmers. Ungeachtet der Tatsache, dass die Elektrizität seit Wochen abgestellt war, schaltete sie unwillkürlich das Licht an. Sie schnippte den Schalter wieder nach unten, während sie sich unnötigerweise dumm und ärgerlich fühlte und stieß die Tür so weit wie möglich auf, in der Hoffnung, dass sich das Sonnenlicht weit genug im Raum verbreiten würde, um das Badezimmer zu erreichen. Das Spülbecken und der Spiegel darüber wurden teilweise durch das Tageslicht erhellt. Sie wischte das staubbedeckte Glas mit einem ebenso verstaubten Handtuch, das von einer längst verstorbenen Reinigungskraft über den Rand der Badewanne gehängt worden war, sauber und starrte dann ihr Spiegelbild an. Herrgott, an diesem Morgen sah sie alt aus. Lag es möglicherweise an Licht und Schatten? Vielleicht war es der Umstand, dass sie die Cremes, Lotionen und das Make-up, mit dem sie ihre Haut jahrelang behandelt hatte, nicht mehr verwendete? Vielleicht sah sie auch nur deshalb so schlecht aus, da ihr Leben zu einem unablässigen, unerträglichen Albtraum geworden war? Aus welchem Grund auch immer; sie ließ das Handtuch ärgerlich in das Spülbecken fallen, ging zurück und legte sich auf das Bett.
Carons Magen war vor Nervosität fest verkrampft. Sie hatte sich zum letzten Mal vor ein paar Jahren so gefühlt, als sie entdeckt hatte, dass ihr Mann mit Sue Richards, der Sprechstundengehilfin der Arztpraxis, geschlafen hatte. Es war nicht der Betrug oder seine Lügen gewesen, die sie verletzt hatten; tatsächlich hatte sich ihr Sexualleben in einem derartigen Ausmaß verschlechtert, dass es so etwas wie einer Erleichterung gleichkam, dass er einen Ersatz gefunden hatte, mit dessen Hilfe er seine aufgestaute Frustration abbauen konnte. Stattdessen hatte Caron damit gekämpft, das Geheimnis zu bewahren und die Fassade aufrecht zu erhalten. Während sie es als nahezu unmöglich empfunden hatte, das Gewicht der Täuschung zu tragen, hatten sie und Bob gemeinsam entschieden, dass es für alle Beteiligten – insbesondere für Matthew – besser wäre, wenn sie einfach so taten, als ob seine kleine Unüberlegtheit gar nicht geschehen wäre. Sie hatte es gehasst, im selben Bett zu schlafen wie er, zumal sie ihn verachtete. Er verursachte ihr Gänsehaut. Sie hasste es, sich dazu zu zwingen, höflich mit ihm zu sprechen, obwohl sie ihm lieber ins Gesicht schreien und sagen wollte, dass er sich verziehen soll. Es war eigenartig, dass sie sich an diesem Tag so ähnlich fühlte. Als sie das Gesicht im Kissen vergrub, entschied sie, dass der Grund für ihr Unbehagen all die anderen Leute waren – wie Bob, ihr toter Ehemann –, die von ihr verlangten, sie solle jemanden spielen, der sie gar nicht war. Alle glaubten, sie könnte Dinge fertigbringen, die sie in Wahrheit nicht tun konnte. Ellie und Anita hatten gedacht, sie würde ihnen helfen. Matthew hatte gedacht, sie würde sich immer um ihn kümmern.
So ist das also, dachte sie, rollte sich wieder herum und blickte zur Zimmerdecke, das ist die beste Gelegenheit – die letzte Gelegenheit – um etwas aus dem zu machen, was noch übrig ist. Ergreifst du sie oder ist es an der Zeit, aufzugeben und sich geschlagen zu geben? Es war eine schwierige Entscheidung. Ihr Instinkt drängte sie dazu, weiterzukämpfen und zu versuchen, zu überleben, doch ihr Verstand sagte ihr etwas vollkommen anderes. Lag irgendein Sinn darin, weiterzukämpfen, wenn es nichts gab, das es wert war, dafür zu überleben? Wenn die Geschehnisse der vergangenen paar Tage alle kurzfristig waren, dann wohl nicht. Doch hier, in dieser unerwarteten Oase aus leichenfreiem Raum und Stille am Ende der Welt, bestand die kleine Chance, es könnte sich herausstellen, dass die Dinge anders lagen. Am gestrigen Abend hatte Ginnie darauf angespielt, dass sie nun endlich jemanden gefunden hätte, der ihr in der Küche dabei helfen konnte, »die Jungs zu betreuen«. Caron hatte sich bei dem Gedanken gesträubt und ihr erklärt: »Ich habe es satt, andauernd die Glucke zu spielen«. Und das, so ihre
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