Herr der Nacht
ohne Zögern. Die geteilte Seele in ihr war wie eine unheilbare Wunde.
Als sie den Granithaufen vor sich sah, hatte sie gewußt, wie nah sie dem Ziel war. Ihr Herz schien zu zerspringen. Sie rannte zu den Felsen und zwängte sich zwischen ihren Auftürmungen durch, und da fand sie ihn, den Mann, der sie im Traum gewesen war, den Mann, dessen Fleisch die andere Hälfte von dem enthielt, was sie besaß.
Und sogleich war sie beruhigt, getröstet. Sie trug keinen Zorn, keine Bitterkeit in sich, daher bestand ihre Antwort auf seinen Anblick weder darin, ihm Leid zuzufügen, noch darin, hastig nach ihm zu greifen, sondern ihre Antwort war, ihn zu lieben. Sie kniete sich in Liebe neben Dresaem auf den Boden. Sie küßte ihn, seine Lippen, seine Augen, seine Hände. Die Hälfte der Seele in ihm spürte sie, aber wie Asrharn die Dinge angeordnet hatte, schlief Dresaem zu tief, um aufzuwachen.
Den ganzen Tag hindurch saß Schesael neben Dresaem zwischen den Granitfelsen.
Die Sonne ging unter. In der Abenddämmerung trippelte ein Wolf über die Felsen.
Er war nicht wie die anderen Wölfe der Einöde, die sich Schesael nicht genähert hatten.
Die Augen des Wolfes brannten sich in Schesaels Gehirn, in das nur wenig Sinn gedrungen war. Der Wolf war Asrharn. Sein starrer Blick hypnotisierte und überwältigte Schesael. Sie konnte nicht gegen ihn ankämpfen und versuchte es auch nicht. Er zwang sie von Dresaems Seite, von dem Felsenort, obwohl die Hälfte der Seele in ihr zerrissen wurde wie eine tödliche Wunde. Asrharn trieb sie fort in die leere Nacht.
Schesael war weit von den Granitfelsen entfernt. Sie sah einen Strahlenkranz von Lichtern in den Himmel gewoben. Sie stand allein und weinend in der Einöde. Sie dachte: ›Mein Geliebter ist dort. Was soll ich tun?‹
Sie begann nachzudenken.
Schesael kehrte auf den Spuren zurück, die ihre eigenen nackten und blutenden Füße hinterlassen hatten, als der schwarze Wolf sie von dort verdrängt hatte. Sie kam zu einem Kupfertor mit einer Reihe aufgespießter gräßlicher Köpfe. Hinter dem Tor lag ein Garten und ein Palast, und sie wußte, daß Dresaem dort war.
Schesael faßte das Tor an, aber sofort schoß um den ganzen Garten eine Wand aus blauem Feuer hoch, und aus dem Feuer sprangen schreckenerregende Gestalten, die sie mit Peitschenhieben forttrieben.
Sie legte sich in einer Höhle nieder und lag dort unbeweglich wie ein Stein, doch ihr Blut vermischte sich mit ihren Tränen auf dem felsigen Boden.
*
Sie ging erst zurück, als die Sonne über den Himmel gewandert und beinahe schon wieder untergegangen war. Sie kniete neben dem schlafenden Dresaem nieder. Um ihre schlanke Taille trug sie einen Gürtel aus zusammengeflochtenen, farbigen Seidenbändern. Diesen Gürtel wand sie nun um Dresaems Handgelenk.
»Ich erkannte ihn an einem einzigen Haar, das sich mit einer Harfensaite verwickelt hatte. Wenn er aufwacht, wird er mich an diesem Gürtel erkennen, den ich so lange getragen habe. Er wird mich erkennen, und dann wird uns nichts mehr trennen.«
Und sie küßte ihn und schlich wieder davon.
Die Nacht kam, und mit ihr Dämonen. Dresaem begann sich auf einem Haufen Atlasstoffen zu regen, und Hyazinthen dienten ihm als Kissen. Und als er eben aufwachen wollte, trat Jaseve heran und erblickte den zerlumpten Gürtel, der um Dresaems Handgelenk gewickelt war, und im nächsten Augenblick hatte sie ihn gelöst und in ein Kohlebecken mit grünem Feuer geworfen, das ihn verschlang.
Die Nacht verging in Ausschweifung. Die Dämmerung zog über die Einöde.
Schesael weinte.
Dann, gegen Sonnenuntergang, suchte sie wieder den Platz auf, wo Dresaem im Schlaf lag. Sie nahm einen scharfen Stein und schnitt eine Locke von ihrem blassen Haar ab und versteckte sie in seinem Hemd.
»Sicherlich wird er mich an dieser Haarlocke erkennen, und dann wird nichts mehr uns trennen.«
Als die Sonne untergegangen war und Dresaem sich auf einem Haufen aus Samt zu regen begann, während Affodillen ihm als Kissen dienten, kam Jaseve und lächelte und suchte in seinen Kleidern, bis sie die Haare fand, und bevor er erwachte, hatte die Dämonenfrau sie in das Kohlebecken geworfen.
Noch eine Nacht und eine Dämmerung. Am Nachmittag schaute Schesael auf den Mann, der zwischen den Felsen schlief.
»Vielleicht willst du mich nicht erkennen. Vielleicht schweigt der Teil der Seele, der dir gehört, inzwischen. Es gibt nichts mehr, was ich dir hierlassen könnte. Ich werde nicht mehr wiederkommen.«
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