Herr der Nacht
Dann beugte sie sich nieder und küßte ihn, seine Lippen, seine Augen, seine Hände, und sie ging fort zu der Höhle und legte sich dort nieder, wie einst Bisuneh sich niedergelegt hatte, und wartete nur noch auf den Tod.
Die Nacht dämmerte schwarz.
Dresaem regte sich auf einem Haufen mit Fellen, und frische duftende Veilchen lagen unter seinem Kopf. Jaseve stand über ihn gebeugt und suchte sorgfältig und fand keinen Gürtel, keine Haarlocke, nichts von Schesael.
Aber es gab ein Ding, etwas, das so klein war, daß die eine Frau den Verlust nicht bemerkte, während die andere, selbst mit ihrem dämonischen Geschick, es niemals finden konnte.
Eine silberne Wimper von Schesaels Augenlid war zwischen Dresaems Wimpern gefallen, als sie ihn geküßt hatte. Und als er erwachte, fiel die Wimper in sein Auge.
Die Wimper störte ihn nicht, aber sie bewirkte eine merkwürdige Veränderung seiner Sicht. Der wundersame Palast zitterte und wurde schattenhaft, die köstliche Gestalt Jaseves nahm ein schreckliches, glühendes Aussehen an, als ob Phosphor in ihren Knochen siedete. Und plötzlich befiel Dresaem ein Gefühl untröstlichen Verlustes, und er wußte augenblicklich, daß er die Verzweiflung darüber schon einmal gefühlt hatte. Er rieb sein Augenlid mit der Hand, und die silberne Wimper glitt auf seinen Finger. Sobald er sie berührte, wußte er, was ihm fehlte. Seine halbe Seele klopfte an das Tor seines Herzens und seines Fleisches, und er rief laut aus: »Ich muß sie finden.«
Und dann rannte er in die Einöde, zu schnell für all die Fallstricke der Finsternis, um ihn zu fangen, rannte, ohne zu verstehen, wie er den Weg erriet, geradewegs zu der Höhle, wo Schesael lag.
*
Später strich Asrharn durch die Einöden. Er strich umher, bis er zwei Gestalten ausmachte, die unter offenem Himmel auf den Felsen saßen.
Der Zauberpalast hinter ihm war verschwunden, Jaseve war wie ein seltener Wein in den Krug zurückgegossen worden. Die Pfauen schlugen ihr Rad nicht mehr auf der Erde, und die künstlichen Nachtigallen lagen unaufgezogen in den Werkstätten der Drin.
Asrharn rief die beiden auf den Felsen:
»Dreh dich um, Schesael! Dreh dich um, Dresaem! Ich bin hier.«
Und sie drehten sich tatsächlich um, ohne zu zögern. Asrharn sah sie im klaren Schein des Mondes.
Sie waren schön wie zwei Dinge nur sein können, die zusammen ein makelloses Ganzes ergeben. Wie ihre Hände zusammenpaßten, so schien jeder Teil von ihnen zueinander zu passen, der Winkel jedes Gliedes, die Krümmung ihrer Wangen, ihrer Brust, gegen die gerade Symmetrie der seinen. Dresaems Haar war silbern, Schesaels Augen waren silbern. Ihr Haar war von fließendem Gold, seine Augen waren von brennendem Gold. Was tierisch in ihm gewesen war, hatte sich zur Ruhe gelegt, was träge in ihr gewesen war, hatte sich belebt. Die Ausdrücke, die über ihre Gesichter zogen, waren identisch und würden es immer sein.
Das Ungleichgewicht beider war durch das Gegengewicht des anderen zum ausgewogensten aller Gleichgewichte geworden. Das Negative war durch das Positive ausgerichtet, die abweichenden Pfade vereinigt. Eisen war Seide; Seide war Eisen. Was daraus hervorging, war heitere Ruhe, Weisheit, Macht, Zauberkräfte – eine Vollkommenheit ohnegleichen.
Keiner der beiden fürchtete sich – wie sollten sie? Sie betrachteten Asrharn mit gelöster Süße. Sie sahen aus wie Götter, oder wie Gott: die ungeteilte Seele, vollkommen. Sie waren zwei Wesen, doch sie waren eins.
Asrharn zog seinen Umhang fester um sich. Er war sehr angetan von diesem Anblick. Für einen Augenblick gefiel er ihm mehr als das Übel.
»Zu fein, um zweimal getrennt zu werden«, sagte er. »Wofür es sich lohnt in der Welt, dazu habt ihr meinen Segen.«
TEIL ZWEI
4
Die Wut der Zauberer
Zwischen den felsigen Hügeln führte ein alter Pfad zur Stadt und zum Meer, aber er wurde nur selten benutzt. Hundert Jahre lang oder mehr hatten die Menschen diesen Weg gemieden, da du selbst am hellichten Tag, so sagten sie, dort in den Felsen unter deinen Füßen ein Monster heulen hören konntest. Und wer wußte, ob es nicht eines Tages herauskäme und dich auffräße? Der mächtige Zauberer jedoch, der mit dem Seidenmantel in Schwarz und Grün und dem Rubinring von der Größe eines Gazellenauges, er, über dessen Kopf ein Lakai einen befransten Sonnenschirm hielt, wenn er in einem offenen Wagen dahinfuhr, der von sechs schwarzen Pferden gezogen wurde, von deren Zaumzeug Perlen
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