Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
sie einen König, oder ist sie ganz allein?«
»Sie ist das einzige Wesen ihrer Art in unserer Wirklichkeit, aber sie spürt andere Wirklichkeiten, aus denen sie ihren Hass zieht.«
»Immer nur Hass.«
»Nein, die Razzor sind mehr als Gefühl. Sie haben einen Verstand, auch wenn er in engen Bahnen geführt wird. Ein Teil von Lisannes unermesslichem Intellekt wohnt in ihnen.«
Kiretta netzte ihre Lippen. »Und was siehst du noch in dieser Nacht?«
»Manchmal glaube ich, dass ich die Bahnen der Magie sehen kann. Die Astralströme, die aus der Schwärze zwischen den Sternen zu uns herabkommen. Jittara meint, das sei unmöglich, man könne sie nur spüren, nicht sehen. Aber Jittara vermag auch nicht zu erklären, wie ich nach Guardaja und zurück reisen konnte.« Er lachte.
Ich komme in seinen Gedanken überhaupt nicht vor. Kiretta verschränkte die Arme. Er sieht mich nicht, selbst wenn ich vor ihm stehe.
»Dein Kampf wartet«, flüsterte sie.
Er nickte, küsste sie wieder auf die Stirn und wandte sich zum Gehen. Er hielt inne und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Lisanne hat mir aufgetragen, mit den Edlen von Pijelas zu sprechen. Es geht um die Kapitulation der Stadt. Bleib lieber weg, das würde dir nicht gefallen.«
»Und wenn ich gern in deiner Nähe wäre?«
Er seufzte. »Mach es nicht so schwer. Ich kann mir keinen Fehler erlauben. Lisanne wartet nur darauf.«
»Lisanne, immer wieder Lisanne!«, fuhr Kiretta auf.
»Ich weiß, dass sie uns vernichten wird, wenn sie kann«, sagte er in belehrendem Ton und wandte sich nun endgültig ab.
Kiretta sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Dann ging sie durch das Feldlager. Die meisten Zelte waren nun aufgebaut, die Krieger sammelten sich um die Lagerfeuer. Sie hörte einem Veteranen zu, der von einer Seeschlacht berichtete. Sie bezweifelte, dass er lange auf Planken gestanden hatte, und wenn doch, konnten seine Gegner keine Seefahrer gewesen sein. Er verwechselte Luv und Lee und hatte nicht verstanden, wie man einem gegnerischen Schiff den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Irgendwann bemerkten die Zuhörer sie. Die Runde verfiel in Schweigen, offenbar wusste hier jeder, wer sie war. Brens Mätresse, das Haustier, das er schätzte. Als sie weiterging, setzte das Gespräch hinter ihrem Rücken wieder ein.
Hatte Bren sie denn nicht so geliebt, wie sie gewesen war? Mit all ihrem unbändigen Drang nach Freiheit?
Sicher, sie hatte sich ihm angeschlossen, hatte gewusst, dass in Ondrien Regeln galten, denen auch sie sich fügen musste. Sie hatte es gern getan, es kaum bemerkt, denn Bren war in ihrer Nähe gewesen.
Jetzt war er fern. So unsagbar fern.
Aber irgendetwas von ihm musste doch noch in diesem toten Körper stecken! Oder hatte man mit dem Herzen wirklich auch die Seele aus seiner Brust gerissen?
Vielleicht verhielt er sich nur so, weil er sie schützen wollte? Sagte er nicht immer wieder, Lisanne sei eine große Gefahr?
Aber was hätte Lisanne davon, Bren zu schaden? Sicher, er hatte ihren Geliebten getötet, aber auch der konnte doch nur eine fixe Idee gewesen sein. Kiretta wusste nun aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, jemanden zu lieben, der einmal gestorben war. Was konnte Lisanne von diesem Helion gehabt haben? Er hatte fünf Jahrzehnte in Leichenstarre gelegen und war nie wieder aufgewacht!
Und dafür wollte Lisanne, deren Klugheit weithin gerühmt wurde, den Feldherrn zu Fall bringen, der nicht nur Ilyjia in die Knie gezwungen, sondern auch alle Feinde auf dem Weg dorthin gedemütigt hatte? Dessen Kampfesmut die Erschaffung der Razzor erst ermöglicht hatte? Der so ungewöhnliche Fähigkeiten in der Magie zeigte? Der sogar in einer Nacht von Akene nach Guardaja und zurück reisen konnte?
Je länger Kiretta darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Lisanne unmöglich ernsthaft Brens Sturz betreiben konnte. Sicher, sie hasste ihn, aber sie wäre nie in die höchsten Kreise Ondriens aufgestiegen, wenn sie sich von solchen Regungen – von irgendwelchen Regungen – hätte beherrschen lassen. Sie war eine Schattenherzogin, eine Frau, die sich vollkommen unter Kontrolle hatte und tat, was richtig war. Nicht, was ihre augenblicklichen Launen befriedigte.
Dennoch konnte sie sich verrannt haben. Ihr fehlten Gefährten, die sie auf Fehler hinwiesen. Auf der Reise nach Orgait hatte Kiretta erlebt, wie man Lisanne begegnete: mit sklavischer Unterwürfigkeit. Niemand half ihr, zu erkennen, wenn sie auf dem falschen Weg war.
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