Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
erreichte Oyster Bay. Sophies Schule befand sich links von ihm. Er bremste an der Ampel vor der Schule und gab seinem Knoten eine letzte Chance. Lockern – gerade richten – festziehen. Manche seiner Kollegen trugen das ganze Jahr über Krawatten. Wie bekamen sie da bloß Luft?
Er lenkte den Saab in seine Wohnsiedlung. Während die Frage, weshalb Haut sich rötete, außerhalb seines Wissensbereichs lag, war er, was das äußere Erscheinungsbild und die gesellschaftlichen Erwartungen anging, durchaus im Bilde. Zwar trug er bei der Arbeit nur selten Krawatte, aber immer ein langärmeliges, perfekt gebügeltes Button-down-Hemd, selbst im Sommer. Neutrale Farben, nichts Aufdringliches oder Grelles. Respekt musste man sich verdienen, und der Mensch war das oberflächlichste Wesen unter Gottes Kreaturen. Anfangs war Esme ganz fröhlich in Jeans und T-Shirt bei Cocktailpartys erschienen. Er hatte sie auf ihr Fehlverhalten aufmerksam gemacht.
Schmetterlinge tanzten in seinem Bauch. Lag das, was von seinem schwarzen Haar noch übrig war, richtig? Waren seine Brillengläser fleckenlos? Er stieg aus seinem Saab und ging zum Haus. Ein letztes Mal zupfte er an dem Krawattenknoten und klingelte an seiner eigenen Haustür. Der Babysitter grinste ihn mit ihrer Zahnspange an.
„Hallo, Mr Stuart. Sie sehen heute aber gut aus.“
„Danke, Chelsea.“ Er wollte nicht hereinkommen. Das war nicht sein Plan. Esme hätte ihm eigentlich aufmachen sollen. Wie bei einer Verabredung zum Abschlussball. So hatte er es geplant. Das war romantisch. Ganz bestimmt. Doch stattdessen stand da dieses Zahnspangengesicht von einem Babysitter …
„Daddy!“
Sophie stürzte zur Haustür und warf die Arme um seinen Bauch (nun, soweit sie ihn umfassen konnte) und drückte fest zu.
„Hi, Süße!“ Er küsste sie auf den Kopf. Sie strahlte mit ihren blauen Augen zu ihm hinauf. Einen Moment lang vergaß er seine ganzen Pläne, die Krawatte, den Valentinstag, die zahnspangige Chelsea, das Armband, das er im Wagen gelassen hatte, die Referate, die er benoten musste, den eisigen Wind, die Neigung der Erdachse, einfach alles. Rafes kleines Mädchen konnte bei ihm kompletten Gedächtnisverlust auslösen, ja, das konnte es. Aber leider nur kurzfristig. „Wo ist Mommy?“
Wie aufs Stichwort spazierte Mommy die Treppe hinunter. Sie trug ein eng geschnittenes Abendkleid, dem Anlass entsprechend rot. Die Farbe unterstrich die Sommersprossen auf ihrer Nase. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit war Rafes Verstand wie leer gefegt.
Esme strich sich als Reaktion auf seinen ehrfürchtigen Gesichtsausdruck verschämt eine Haarsträhne hinters Ohr. Selbst nach acht Jahren fand er sie noch schön. Sie nahm seine Hand, und nachdem sie Sophie und ihrem Babysitter Gute Nacht gesagt hatten, traten sie hinaus in die Nacht.
Das Restaurant erreichten sie zu spät, aber nach einer minimalen Diskussion führte sie der fröhliche Oberkellner trotzdem an ihren Tisch. Das „Il Forno“ befand sich auf einer Klippe und überblickte die dunkelblaue Long-Island-Meerenge. Sie nahmen ihre Plätze am Fenster ein und starrten durch die Scheibe auf die wogenden Wellen.
An ihrem rechten Handgelenk steckte die grüne Nelke. Sie hätte sich vorhin beim Einsteigen beinahe daraufgesetzt, doch Rafes Aufschrei verhinderte ein solches Desaster in letzter Sekunde. Er eilte ums Auto und befestigte die Blume am Handgelenk seiner Frau. Esme grinste ihn an. Es gab wohl keinen fantastischeren Mann als ihren. Dann hatte sie ihn auf den Mund geküsst und „Danke“ in sein Ohr geflüstert.
Der Ober im Smoking stellte sich vor – was nicht nötig gewesen wäre, denn er war einer von Rafes Studenten aus dem Memetik-Seminar.
„Schön, Sie zu sehen, Professor!“, sagte Nate. „Ich wusste nicht, dass Sie heute kommen würden.“
Rafe fuhr fort, freundlich zu lächeln. Hätte er gewusst, dass einer seiner Studenten hier bediente, wäre er sicher nicht gekommen. Wenn Romantik schon keine Privatsache mehr war, so sollte sie doch zumindest vor seinen Studenten und Studentinnen sicher sein.
Kaum hatte Smoking-Nate ihre Getränkebestellung aufgenommen und sich wieder zurückgezogen, als Rafe sich zu seiner Frau vorbeugte und beiläufig fragte, ob sie lieber woandershin gehen wolle. Doch Esme lachte nur. „Wegen unseres Kellners? Ich finde das lustig. Wieso – lässt du ihn durchfallen? Hast du Angst, dass er dein Essen vergiftet?“
Rafe zuckte zusammen. So hatte er sich den Abend nicht
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